Der fremde Sohn (German Edition)
sich auf die Lippe und sah das Mädchen an. »Sind Sie allein?«, fragte sie.
Immer, hätte Dayna am liebsten gesagt, doch sie nickte nur schüchtern.
»Werden Sie nachher abgeholt?«
Dayna war klar, worauf sie hinauswollte, und sie log: »Ja, meine Mutter kommt.«
Erleichtert tippte die Schwester etwas in den Computer ein. »Also gut, dann fangen wir mal mit der Aufnahme an und suchen Ihnen ein Bett.« Sie führte Dayna über die Station, vorbei an Reihen wartender Frauen, von denen einige hochschwanger waren.
Nachdem sie durch mehrere Flure gegangen waren und die Wärme, die Besucher und das fröhliche Geplauder hinter sich gelassen hatten, kamen sie an eine mit einem Codeschloss gesicherte Tür, hinter der mehrere Räume lagen. Dort waren viele junge Mädchen, und an den Wänden hingen Poster mit Slogans wie: Safer Sex – Liebe ohne Reue … Vergewaltigung – die Opfer sind nicht schuld … Pass auf dich auf … Die Bilder zeigten Kondome, Pillenpackungen und andere Dinge, die Dayna nicht kannte. Blinzelnd ließ sie den Blick über die Poster gleiten, während sie der Schwester folgte, ihrem Schicksal entgegen.
Eine Viertelstunde später lag Dayna, mit einem Krankenhausnachthemd bekleidet, im Bett und machte der Schwester Angaben zu ihrer Krankengeschichte. Die Frau notierte alles und fragte Dayna freundlich, ob sie einen festen Freund habe. Dayna schüttelte den Kopf, worauf die Schwester ihr mitteilte, der Anästhesist werde gleich da sein.
Hungrig und durstig sah Dayna vier Stunden später die Deckenlampen, Lüftungsschächte und Wegweiser über sich vorbeiziehen, als sie in den OP geschoben wurde. Die Pfleger unterhielten sich über ihren Kopf hinweg über ihre Frauen und Kinder. Dayna spielte mit dem Plastikband an ihrem Arm. Die Kanüle in ihrem Handrücken tat ihr weh. Sie trug eine Papierunterhose.
Bald würde alles vorüber sein.
Max empfing die zweite Nachricht um zwanzig nach fünf.
Er hatte sich ausgemalt, wie sie im OP lag, die gespreizten Beine in diesen Metallhalterungen befestigt. Der Chirurg plauderte mit der Schwester über das Restaurant, in dem er am Vorabend gegessen hatte, die Geräte piepsten monoton, alles ganz normal. Hin und wieder warf die OP -Schwester einen prüfenden Blick auf Daynas Gesicht, das hinter dem Schirm verborgen war. Der Chirurg tat seine Arbeit, reine Routine. Vielleicht fiel die eine oder andere Bemerkung über die Begleitumstände und darüber, wie traurig das alles war. Sie holten ihr Kind heraus und legten es in eine Metallschale. Und was dann?
Dann würden sie Dayna waschen und ins Aufwachzimmer bringen. Die Schwester, die ihr eine Tasse Tee brachte, wäre freundlich, wenn auch ein wenig reserviert. Vielleicht versuchte ja ihre Schwester seit Jahren, schwanger zu werden. Oder sie selbst hatte schon eine Fehlgeburt erlitten. Das Ganze war ein ambulanter Eingriff, das hatte Max im Internet gelesen. Rein und raus.
Ihre nächste SMS schrieb sie im Bus auf dem Weg nach Hause.
Es ist alles vorbei .
Freitag, 1. Mai 2009
G uten Morgen und herzlich willkommen zu unserer heutigen Sendung von Reality Check .« Ihre Wangen glühten. Sie stand sehr aufrecht und blickte in die Kamera. Nach einem tiefen Atemzug sprach sie langsam weiter. »Ich bin Carrie Kent und präsentiere Ihnen heute unsere Sendung unter ungewöhnlichen Umständen.« Noch einmal tief durchatmen. »Es ist kein Geheimnis, dass meine Familie letzte Woche einen grausamen Schicksalsschlag erlitten hat.« Sie schluckte. »Mein geliebter Sohn wurde auf dem Gelände seiner Schule kaltblütig erstochen.« Carrie trat einen Schritt zurück. Keine Spur mehr von ihrem sonst so energischen Gang, den ausgreifenden Gesten. Ihr Gesicht war ausdruckslos.
»Mir ist in meinem Leben noch nie etwas so schwergefallen, wie heute Morgen diese Show zu moderieren, aber ich verfolge damit zwei Ziele: Erstens möchte ich diejenigen unter Ihnen erreichen, die vielleicht Hinweise zu der Tat geben können.« Carrie beugte sich ein wenig vor, die Kamera zeigte ihr Gesicht in Großaufnahme. »Sollte Ihr Sohn aufgelöst oder mit Blutflecken an der Kleidung nach Hause gekommen sein, sollte Ihr Freund sich mit der Tat gebrüstet haben, dann bitte ich Sie inständig, rufen Sie an! Wenn Sie etwas wissen, helfen Sie uns! Wir werden während der Show immer wieder die Nummer der Hotline einblenden, die Sie direkt mit der Kriminalpolizei verbindet. Sie können anonym bleiben, und Ihre Auskünfte werden vertraulich
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