Der fremde Sohn (German Edition)
dazugehören würde.
»Jetzt bin ich eine von ihnen, nicht wahr?«, fragte sie ihr Spiegelbild.
»Wie bitte?«, gab die Maskenbildnerin zurück.
Leah war schon wieder ins Aufnahmestudio gerufen worden.
»Ich bin zu dem geworden, wovor ich mich immer gefürchtet habe.«
Das Mädchen lächelte nervös und fuhr mit einem dicken Pinsel über Carries Wangen. Sie war noch sehr jung, kaum älter als Max, dachte Carrie. »Ich habe gehört, was passiert ist«, sagte das Mädchen. »Es ist schrecklich. Mein Bruder wurde kurz vor Weihnachten vor einem Lokal bedroht. Er sagt, überall laufen Typen mit Messern rum. Wahrscheinlich finden sie das cool oder so.«
Doch Carrie hörte nicht zu. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ im Geiste die Gesichter all der trauernden Mütter vorüberziehen, die im Laufe der Jahre in ihrer Show gewesen waren. Jeder einzelnen von ihnen leistete sie Abbitte.
Donnerstag, 9. April 2009
D ayna nahm den Bus, der direkt vor dem Krankenhaus hielt. Während sie so dahinrumpelte, Schulter an Schulter mit dem alten Mann links neben ihr, bemühte sie sich, die Geräusche der anderen Fahrgäste auszublenden – das Plärren der Kinder, das Geplapper der Frauen, das metallische Scheppern aus Kopfhörern. Ihre Eingeweide schienen in Flammen zu stehen. Aus einem Impuls heraus schrieb sie Max eine SMS .
Lasse heute die Abtreibung machen .
Sie wollte, dass er es wusste. Dass auch ihm das Herz bis zum Hals schlug. Dass er zurückschrieb und sie beschwor, es nicht zu tun. Dann würde sie seine Bitte ignorieren und ihm nachher mitteilen, dass es zu spät war und er es sich früher hätte überlegen sollen. Dass sie nichts dafür konnte, was über ihn geredet wurde.
Ihr war schlecht. War es das Kind? Die Busfahrt? Oder die Erinnerung daran, wie sie sie verprügelt und mit dem Gesicht ins Pissoir gedrückt hatten, bis sie ihnen alles haarklein erzählte … Nichts von alldem, was in der Schule die Runde machte, hatte sie wirklich gesagt. Die blauen Flecken, der Dreck, den sie ihr in den Mund gestopft, die Sachen, die sie ihr geklaut hatten – nichts davon hätte sie dazu bringen können, Max’ und ihre Liebe zu verraten. Sie hatte ihnen gesagt, dass sie ihn liebte. Nur schade, dass sie es ihm nicht gesagt hatte.
Dann hatten sie die Gerüchte in die Welt gesetzt. Die anderen hatten sich ihre eigene Version der Ereignisse zusammengereimt und brachten Daynas Zeit mit Max Stück für Stück unter die Leute wie wertlosen Plunder. In ihrer Vorstellung rannte sie herum und versuchte, die Brocken wieder einzusammeln und Max zu erklären, wie es dazu gekommen war, doch die Art, wie er sie ansah, war unerträglich. Er glaubte den anderen. Er glaubte tatsächlich, dass sie all diese schrecklichen Dinge gesagt hatte. Lag es vielleicht daran, dass er selbst so wenig von sich hielt?
Der Bus wurde langsamer und kam zum Stehen. Zu ihrer Linken ragte das Krankenhaus auf. Es schien weder Gesundheit noch Genesung zu verheißen, sondern hatte etwas Morbides, Endgültiges. Aber es war wohl normal, dass sie es so empfand, dachte Dayna beim Aussteigen. Sie legte eine Hand auf ihren Bauch und fragte sich, ob das Kind ihre Angst spürte. Forsch ging sie zur Anmeldung und gab das Formular ab, das sie einige Wochen zuvor in der Klinik bekommen hatte. Am Vortag war sie telefonisch benachrichtigt worden, dass ein Termin frei geworden war und sie nach Mitternacht nichts mehr essen und trinken sollte. Danach hatte sie stundenlang auf der Toilette gesessen und nachgedacht.
»Gehen Sie bitte in den dritten Stock auf die gynäkologische Station.«
Auf dem Weg zum Aufzug hatte Dayna das Gefühl zu schweben. Als sie in der dritten Etage auf den Flur hinaustrat, wurde ihr beinahe schwindlig von all den Hinweisschildern, den umhereilenden Krankenschwestern und Pflegern, dem blendenden Weiß überall. Es war, als hätte es in ihrem Kopf geschneit.
»Entschuldigen Sie bitte«, wandte sie sich leise an einen Pfleger, »wissen Sie, wo …« Wissen Sie, wo es hier zur Abtreibung geht? Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. »Wo die gyn … die gynä …« Es gelang ihr nicht, das Wort auszusprechen.
»Zur Gynäkologie geht’s dort entlang, erster Flur rechts.« Der Pfleger, der eine junge Frau in einem Rollstuhl schob, entfernte sich. Die Finger der Frau zuckten in ihrem Schoß, ihr Gesicht war gespenstisch bleich, ihr Bauch riesig wie eine reife Wassermelone.
Auf der Station angekommen, gab Dayna ihren Schein ab.
Die Schwester biss
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