Der fremde Sohn (German Edition)
behandelt.«
Carrie drehte sich um, wobei ein Hauch ihrer gewohnten Bühnenpräsenz aufschimmerte, und ging zu den beiden Stühlen, die im rechten Winkel zueinander unter dem riesigen Foto von Max standen.
»Zweitens wende ich mich an alle Jugendlichen, die auf dem falschen Weg sind – die es für normal halten, mit einem Messer in der Tasche herumzulaufen. Aber das ist es nicht. « Sie schwieg einige Sekunden lang, den Blick fest in die Kamera gerichtet, die für sie einmal nicht das Fenster zum Ruhm war, sondern der Zugang zu Millionen Zuschauern vor den Fernsehschirmen. Sie eröffnete ihr die Chance, wirklich etwas Sinnvolles zu tun.
»Ein Messer bietet keinen Schutz, wie manche vielleicht glauben. Es macht sie weder mutiger noch unbesiegbar und ist auch kein Zeichen von Männlichkeit. Und es wertet sie in den Augen anderer nicht auf.« Unwillkürlich und ohne auf das Mitleid der Zuschauer zu spekulieren, schluchzte Carrie auf, doch noch gelang es ihr, die Tränen zurückzuhalten. Sie durfte sich jetzt nicht gehen lassen, schließlich hatte die Show gerade erst begonnen. »Wer mit einem Messer oder einer anderen Waffe herumläuft, outet sich als der letzte Abschaum und beweist nichts anderes, als dass er ein Feigling ist, den die Angst niemals loslässt. Wenn es mir gelingt, auch nur einen Menschen dazu zu bewegen, das Richtige zu tun – heute hier anzurufen, seine Waffe niederzulegen –, dann gibt mir das vielleicht die Kraft weiterzumachen, auch wenn ich im Augenblick am Boden zerstört bin. Dann wäre der Tod meines Sohnes nicht völlig sinnlos gewesen. Ich danke Ihnen.«
Langsam ging Carrie zum hinteren Rand der Bühne. Sie wurde die Vorstellung nicht los, wie Max das Küchenmesser einsteckte. Sie wusste, dass die Kamera sie begleitete und zugleich der Rest des Vorspanns über den Bildschirm lief. Normalerweise spielten sie dazu die einprägsame Erkennungsmelodie, doch heute blieb es still. Das Studiopublikum befolgte die Anweisung und applaudierte verhalten. Als wieder Ruhe eingekehrt war, wandte sich Carrie erneut der Kamera zu, und die Show begann.
»Ich möchte Ihnen eine junge Dame vorstellen, die während der ganzen letzten Woche sehr tapfer gewesen ist und von deren Existenz ich bis vor wenigen Tagen noch nichts wusste. Sie war Max’ Freundin, und da Teenager nun einmal ihre Geheimnisse haben, hat er mir nichts von ihr erzählt. Zu ihrem Unglück musste die junge Frau mitansehen, wie mein Sohn erstochen wurde, doch leider konnte sie die Täter nicht identifizieren. Ich habe sie in meine Show eingeladen, damit sie ihre Geschichte erzählt und Sie, liebe Zuschauer, uns vielleicht helfen. Nachdem ich zehn Jahre lang diese Show moderiert und mich dabei in das Leben anderer Menschen eingemischt habe, ist es nun an der Zeit, dass Sie sich in mein Leben einmischen. Meine Damen und Herren, begrüßen Sie mit mir Miss Dayna Ray und erweisen Sie ihr Respekt für ihre Trauer.«
Es folgte wiederum gedämpfter Applaus, dann geschah nichts mehr. Carrie, die am Bühneneingang stand, um Dayna in Empfang zu nehmen, schluckte. Ihr war es egal, wie unsicher und nervös Dayna vor der Kamera wirkte, Hauptsache, sie trat überhaupt auf. Doch Dayna kam nicht. Carrie drückte auf den Knopf an ihrem Ohrhörer. Nichts.
Nach einigen weiteren Sekunden, die Carrie wie Stunden vorkamen, trat Dayna endlich in die Kulissen. Hinter ihr erkannte Carrie Jess Britton. Die Polizistin nickte Dayna beruhigend zu und schob sie sanft hinaus in das gleißende Scheinwerferlicht.
»Dayna, meine Liebe, ich danke dir vielmals, dass du gekommen bist.« Die Worte sprach Carrie nicht ins Mikrofon; sie waren nur an Dayna gerichtet. Dann umarmte sie das Mädchen lange, teils als Geste, um dem Publikum zu zeigen, dass das geteilte schwere Schicksal eine besondere Bindung zwischen ihnen beiden geschaffen hatte, teils aber auch aus echter Sympathie.
Dayna blinzelte und versuchte mit zusammengekniffenen Augen, sich zu orientieren. Man hatte ihr das Studio vor der Sendung gezeigt, damit sie sich an die Scheinwerfer, das Fernsehteam, die Kameras gewöhnen und einen Blick auf die paar Hundert Sitzplätze werfen konnte, von denen ihr bald darauf gespannte Gesichter entgegenschauen würden. Was für Carrie so selbstverständlich war, dass sie es kaum noch wahrnahm, musste auf Dayna geradezu lähmend wirken. Selbst unter günstigen Umständen war ein Auftritt im Fernsehen schon furchteinflößend.
»Komm, nimm Platz, damit wir uns unterhalten
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