Der fremde Sohn (German Edition)
können.«
Vor den beiden Stühlen stand ein niedriger Tisch mit zwei Gläsern und einer Wasserkaraffe. Während Dayna Platz nahm, füllte Carrie die Gläser. Das Mädchen wirkte nur halb so groß wie sonst, als sei sie vor lauter Kummer und Furcht geschrumpft. Ihre Beine in der engen grauen Hose waren bleistiftdünn, und der übrige Körper versank schier in ihrer Jacke. Mit hochgezogenen Schultern und gesenktem Kopf versuchte sie, ihr Gesicht im Kragen zu verstecken, den Blick auf ihre unruhig scharrenden Füße gerichtet, die in schmuddeligen Stoffturnschuhen steckten.
»Wir sind wirklich froh, dass du gekommen bist, Dayna. Die Fragen, die ich dir heute stellen muss, werden nicht angenehm sein, aber ich hoffe, es tröstet dich ebenso wie mich, dass das, was wir hier tun, einen Sinn hat. Es fällt weder dir leicht noch mir noch den unermüdlichen Polizeibeamten, die rund um die Uhr an diesem Fall arbeiten, aber es muss sein. Wir tun es für Max und für diejenigen Jugendlichen, die heute noch am Leben sind, aber in einer Woche oder einem Jahr vielleicht nicht mehr … Wir müssen versuchen, der Gewalt ein Ende zu setzen.«
Carrie schwieg für einen Moment, um sich zu sammeln, trank einen Schluck Wasser, veränderte ihre Haltung ein wenig und blickte dann Dayna Ray direkt in die Augen.
»Dayna, ich möchte, dass du mir mit deinen eigenen Worten erzählst, was am Morgen des 24. April an der Schule geschah.«
Dayna war bewusst, wie nervös sie wirkte – sie musste ständig blinzeln und fummelte an ihrem Haar herum –, aber es war ihr egal. Sie schmachtete nach einer Zigarette, und ein Bier zur Beruhigung hätte sie jetzt auch vertragen können. Stattdessen knabberte sie an ihren Nägeln. Sie hatte schon Ausgaben der Show gesehen, in denen Studiogäste kreischend um sich schlugen und traten und schließlich von der Bühne stürmten. Oder hinausgezerrt wurden. In solchen Fällen bemühte sich Carrie immer, die Leute zu beruhigen und sie wieder zurückzuholen, damit die Show weitergehen konnte. Ob sie selbst sich auch trauen würde, einfach hinauszurennen?, überlegte Dayna. In den vergangenen Tagen hatte sie oft darüber nachgedacht, und jetzt, da sie hier mit Carrie Kent saß und sich zerpflücken lassen musste, erschien ihr die Vorstellung durchaus verlockend. Schließlich konnte sie doch unmöglich die Wahrheit sagen.
»Dayna, ich möchte, dass du mir mit deinen eigenen Worten erzählst, was am Morgen des 24. April an der Schule geschah.«
Carrie stellte ihr Glas ab. Dayna griff nach ihrem. So brauchte sie wenigstens für ein paar weitere Sekunden nichts zu sagen. Warum war sie bloß hergekommen?
»Lass dir ruhig Zeit«, fügte Carrie hinzu, was jedoch offenbar heißen sollte: »Mach schon.«
»Es war eigentlich ein ganz normaler Tag«, begann Dayna schließlich. Es war ein seltsames Gefühl, als Einzige zu reden, wenn so viele Leute zuhörten. Ihre Stimme kam ihr ganz fremd vor. Sie richtete den Blick auf einzelne Personen im Zuschauerraum, sah, wie sie den Kopf schüttelten oder auf ihrem Sitz herumrutschten. »Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren würde.« Ihre Worte klangen hohl, als spräche sie nur über das schlechte Mensaessen oder darüber, wie ihr Sportlehrer die Klasse durchs Gelände hetzte.
Doch es war die Wahrheit. Sie hatte wirklich nicht mit so etwas gerechnet. Selbst vor dem Hintergrund dessen, was zwischen ihr und Max vorgefallen war, erschien es ihr wie ein Horrorfilm, den sie einfach nicht aus dem Kopf bekam.
»Ich bin früh aufgestanden, habe meiner kleinen Schwester beim Anziehen geholfen und sie zum Kindergarten gebracht. Dann bin ich weiter zur Milton Park gegangen. Es war alles wie immer.«
Dayna sah, dass Carrie ihr zunickte. Wie warm es im Studio war. Hätte sie doch nur nicht diese blöde Jacke angezogen.
»Hast du auf dem Schulweg mit jemandem gesprochen?«
»Nee, mit mir redet keiner. Na ja, Max schon, aber …« Dayna verstummte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Schon jetzt war ihr zumute, als liefe sie barfuß durch einen Haufen Glasscherben. »Ich hatte Matheunterricht und habe mich ziemlich gelangweilt. Danach hatte ich noch Erdkunde, aber dann habe ich beschlossen blauzumachen.«
Die grellen Lichter blendeten Dayna und machten sie benommen. Sie blickte hinauf zu den Metallgestellen, an denen Hunderte von Spots hingen wie Geschützbatterien, die jeden Augenblick auf sie feuern konnten. Lichtgeschosse, um mich zum Reden zu bringen, dachte sie. Aber das
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