Der fremde Sohn (German Edition)
Objekten, die er sonst überwachte.
»Verflixtes Biest«, knurrte er, trank einen Schluck Kaffee aus dem Pappbecher und verbrannte sich die Lippe.
»Himmel, Den, müssen wir hier noch lange sitzen?« Jess hatte sich für eine Flasche Wasser und einen Apfel entschieden. Kein richtiges Frühstück, hatte er gebrummt, worauf sie missbilligend sein zuckeriges Teilchen beäugte.
»Du kannst jederzeit gehen«, entgegnete er mit vollem Mund.
»Und wie, bitte schön, soll ich aufs Revier zurückkommen?« Sie biss in ihren Apfel und ließ das Fenster herunter. Schon als sie um sieben Uhr früh herkamen, war klar, dass es ein heißer Tag werden würde. Anderthalb Stunden später hatte die Sonne die Wolkenschleier aufgelöst, und jetzt war der Himmel strahlend blau. Jess stützte den Ellenbogen auf die Kante des Fensters und legte den Kopf schief. »Kannst du sie nicht einfach anrufen?«
»Nein, ich muss sie sehen«, erwiderte er nur. »Und du, meine Liebe, bist eben zufällig mit im Wagen.«
»Na toll«, begann Jess, verstummte jedoch, als Dennis sich plötzlich das Teilchen zwischen die Zähne klemmte, sich vorbeugte und mit beiden Händen das Lenkrad umklammerte. »Ist sie das?«, fragte Jess.
Er nickte stumm. Es war nicht nur das Teilchen, das ihn am Sprechen hinderte, sondern vor allem der Schock. Ein junges Mädchen war aus dem Haus getreten. Zögernd blieb sie in der Einfahrt stehen, dann kehrte sie noch einmal um. Jemand – ein Mann, wie Dennis bemerkte – hatte offenbar schon hinter der Tür gewartet und öffnete jetzt, um ihr eine kleine Tasche zu reichen. Das Mädchen lachte, dass ihre weißen Zähne strahlten – über die eigene Vergesslichkeit ebenso wie aus Dankbarkeit für den Mann, der ihr behilflich gewesen war.
Dennis knurrte unwillig.
Der Mann winkte sie noch einmal zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Da war es wieder, dieses Lächeln, mit dem sie das lange blonde Haar zurückwarf, sich die Tasche über die Schulter hängte und beschwingten Schrittes die Auffahrt hinunterging.
Dennis ließ den Motor an.
»Sie ist hübsch«, bemerkte Jess. »Können wir jetzt fahren?«
»Natürlich nicht«, entgegnete Dennis und warf das halbaufgegessene Teilchen aus dem Fenster. Im ersten Gang schlich der Wagen dahin.
»Jetzt spionieren wir also einem jungen Mädchen nach. Du wirst noch dafür sorgen, dass man uns verhaftet, du Blödmann.«
Dennis sah, wie Jess genervt die Augen verdrehte – wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie jetzt endlich zur Dienststelle fahren und sich um die Messerstecherei von vergangener Woche kümmern sollen, die in einem Nachtclub stattgefunden hatte.
»Das ist doch lächerlich«, sagte Dennis plötzlich, fuhr auf den Bordstein, zog die Handbremse an und stieg aus.
»Schön, dass du es einsiehst.«
»Warte hier«, blaffte er und marschierte davon. Jess sah ihm nach, wie er mit energischen Schritten über die menschenleere Straße ging.
Das Mädchen beeilte sich, als fürchte es, zu spät zur Schule zu kommen. Ihr dunkelblauer Rock und der weinrote Blazer waren tadellos gepflegt, ihr Haar glänzte in der Sonne, und ihr Gang wirkte zielstrebig, als freue sie sich auf das, was vor ihr lag. Darauf, die Bücher aufzuschlagen, zu lernen, ihre Freundinnen zu sehen, sich zwischen den Unterrichtsstunden mit ihnen zu unterhalten. Sie war ein beliebtes Mädchen, das wusste Dennis. Plötzlich musste er an dieses andere Mädchen denken, Dayna. An Max und den Kampf der beiden gegen eine Welt, die sie ablehnte. Ganz anders als seine Tochter, dachte Dennis voller Dankbarkeit. Ihm wurde warm ums Herz, bei dem Gedanken, dass sie glücklich war und umsorgt wurde. Auch wenn nicht er es war, der ihr an der Haustür einen Abschiedskuss gab – es war doch immerhin jemand, der sich um sie kümmerte und dem sie etwas bedeutete.
»Estelle!«, rief er, und als sie sich nicht umdrehte, noch einmal: »Estelle!«
Sie beschleunigte ihren Schritt. Erst bei der Bushaltestelle an der Ecke blieb sie notgedrungen stehen. Sie ließ den Kopf hängen.
Als Dennis sie einholte, war er außer Atem. »Okay, okay«, japste er lachend. »Du hast gewonnen. Ich bin eben ein alter –«
Estelle drehte sich zu ihm um und blinzelte in die Sonne. In ihren Augen standen Tränen.
»Estelle, mein Liebling, was hast du?«
»Dad? Was machst du denn hier?«, flüsterte sie und lachte unsicher, dann schniefte sie, zog ein Taschentuch hervor und runzelte die Stirn.
»Ich … ich wollte dich sehen. Was
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