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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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ist los? Was hast du?«
    »Nichts«, wehrte sie hastig ab. »Mum wäre wütend, wenn sie wüsste, dass du mir gefolgt bist. Heute ist nicht dein Besuchstag.«
    »Es ist nie Besuchstag«, entgegnete Dennis. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Er wollte wissen, warum seine Tochter, die noch vor zwei Minuten fröhlich gestrahlt hatte, plötzlich weinte. »Was ist los mit dir, Schatz?« Allerlei Befürchtungen gingen ihm durch den Kopf – vielleicht wurde sie gemobbt, bedroht, von Mitschülern geärgert. Oder ein Lehrer hackte auf ihr herum. Dennis streckte die Arme aus, war einen Moment lang hin- und hergerissen und legte seiner Tochter schließlich die Hände auf die Schultern. Sie ließ sich von ihm in die Arme nehmen, und er flüsterte, das Gesicht in ihrem weichen Haar vergraben: »Ich lasse nicht zu, dass sie dir weh tun.«
    »Wovon redest du, Dad?« Estelle löste sich von ihm, schniefte einmal und blickte ihn irritiert an.
    »Wenn du Probleme in der Schule hast, musst du es mir sagen. Ich kann dir helfen.«
    »Ich habe keine Probleme. Ich gehe gern zur Schule.«
    »Was quält dich dann, mein Liebes?«, fragte Dennis verständnislos. Als er ihr einen Finger unter das Kinn legte und ihr Gesicht anhob, lag in ihren blauen Augen eine solche Traurigkeit, dass er darin zu versinken drohte. Angst stieg in ihm auf. Sie sagte ihm nicht die Wahrheit.
    Plötzlich erkannte er in ihrem jungen Gesicht eine Ähnlichkeit mit Dayna und sah all das Elend, das sie mit Max geteilt hatte – bis zum bitteren Ende. Warren Lane war noch immer in Haft. In einem Monat sollte die Verhandlung sein. Durch ein neuartiges Untersuchungsverfahren waren an dem Messer die Fingerabdrücke dreier Personen festgestellt worden: Ein Abdruck stammte von Max, einer war nicht zweifelsfrei zuzuordnen, und einer gehörte eindeutig zu Lane. Das hatte den Staatsanwalt endlich doch überzeugt.
    »Ich vermisse dich, Dad«, sagte Estelle. »Ich habe gelernt zu verdrängen, dass du keine Zeit für mich hast und dass du und Mum andauernd streitet. Aber als ich jetzt deine Stimme hörte, hat mich das … traurig gemacht.«
    »Ach, Estelle.« Dennis brachte vor Erleichterung kaum ein Wort hervor. »Es tut mir so leid, mein Liebling. So furchtbar leid. Wie kann ich es wiedergutmachen?«
    »Ganz einfach«, antwortete Estelle. Ihr Lächeln wärmte ihm das Herz. »Nimm an meinem Leben teil.«
    Fiona stand inmitten von Kartons, während Brody an seinem provisorischen Schreibtisch arbeitete. Sie schaffte fleißig Ordnung, er dagegen wollte anscheinend nichts weiter, als in dem riesigen Park gegenüber von seinem neuen Haus spazieren gehen oder sich in die Arbeit vergraben. Sie wusste, dass ihn der Schmerz noch immer auf Schritt und Tritt verfolgte, vom Zähneputzen bis zu den Vorlesungen, die er jetzt wieder hielt.
    Warum, hatte er sie einmal gefragt, sehe ich meinen Sohn überall, wo doch meine Welt schwarz wie die Nacht ist?
    »Ich hätte diese Sachen in einem Tag ausgepackt, wenn du mir nur sagen würdest, wohin du sie haben willst.« Brodys Habseligkeiten waren monatelang eingelagert gewesen. Er selbst hatte sich lieber ein Zimmer in einem Hotel genommen, als bei Fiona zu wohnen, wie sie ihm angeboten hatte, und sie hütete sich zunächst, mit ihm darüber zu streiten. Das kam erst später, als sie ihm bei der Suche nach einem Haus half.
    »Ich habe eine bessere Idee«, sagte Brody, klappte seinen Laptop zu und wandte sich zu Fiona um. »Räum einfach alles ein, wie du es für richtig hältst. Dann habe ich Spaß beim Suchen.«
    »Spaß?« Fiona stapelte Teller in einen Küchenschrank. Das ganze Haus war sauber, modern und funktionell. Wenn Brody das sehen könnte, hatte sie bei der Besichtigung gedacht, dann würde er wahrscheinlich lieber wieder in seine alte Wohnung ziehen. »Es ist ausgefallen und hat Charakter«, hatte sie zu ihm gesagt. »Außerdem ist es nicht weit bis zur Uni, und ich kann in fünf Minuten hier sein.« Dieser Punkt hatte ihr besonders gefallen.
    »Ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte Brody. »Du packst alles aus, und ich lade dich dafür zum Essen ein.«
    »Zum Essen? Wo?« Sie dachte an das letzte Mal, als er mit ihr essen gegangen war.
    »Sei nicht so undankbar.« Er lachte. Nimm an oder lass es sein, sollte das heißen. Dabei wusste er genau: Sie würde annehmen.
    »Danke. Essen gehen wäre … nett.« Damit riss sie das Klebeband von einem weiteren Karton.
    Jetzt, im sechsten Monat, sah man es schon. An Daynas straffem Körper

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