Der fremde Sohn (German Edition)
Bandengesetz. Nur Warren Lane hatte es gebrochen, weil er sich danach sehnte, in den Knast zu gehen. In gewisser Weise konnte Dayna ihn verstehen.
Im Studio drängten sich jetzt viele Leute, Gerüchte und Spekulationen machten die Runde. An diesem Tag sah Dayna Carrie nicht wieder.
Jess brachte sie nach Hause.
Vor Daynas Haus angekommen, stellte Jess den Motor ab und fragte: »Meinst du, du kommst zurecht?«
»Ja«, sagte Dayna und dachte das Gegenteil. Ihr Haus wirkte kalt und dunkel und abweisend. »Es wird schon gehen.« Sie fragte sich, ob ihre Mutter schon zu Hause war. Anscheinend hatte der Sicherheitsdienst sie während der Sendung hinausgebracht.
Die Hände auf den Bauch gelegt, stand Dayna auf dem Bürgersteig und sah dem davonfahrenden Polizeiwagen nach. Sie wollte ihrem Kind alles über seinen Vater erzählen.
Von dem Moment an, als er die Taste auf der Fernbedienung drückte, stand für ihn fest, dass er keine einzige Nacht mehr in dieser Wohnung verbringen konnte. Der Fernseher verstummte. Draußen lärmten Kinder.
»Ich muss ins Studio«, sagte er leise. Er wollte bei Carrie sein. Die Show im Fernsehen zu verfolgen, mitzubekommen, welche Fragen Carrie dem Mädchen über den Tod ihres Sohnes stellte, sich den Einspielfilm vorzustellen, über die Zahlen der Kriminalstatistik zu erschrecken und sich zu wundern, warum plötzlich mitten in der Sendung eine Wiederholung gebracht wurde – all das war schmerzlicher, als persönlich dabei zu sein. Er rief Fiona an.
Als sie ankamen, war die Show bereits vorbei. Carrie war in ihrer Garderobe. Er ging allein zu ihr hinein. Wie erstarrt saß sie auf einem Drehstuhl vor dem Spiegel.
»Sie hätten nicht zulassen sollen, dass du das tust«, sagte er. » Ich hätte es nicht zulassen sollen.« Er nahm sie fest in die Arme und spürte die Hitze der hellen Spiegelbeleuchtung auf seinem Gesicht.
»Aber irgendetwas musste ich doch tun«, erwiderte Carrie und presste ihre Wange an seine Schulter.
Brody schüttelte den Kopf. Er verstand sie vollkommen und dachte an seine eigenen vergeblichen Versuche, seinem Sohn beizustehen. Sie beide hatten versagt. Er fragte sich, ob sie es mit vereinten Kräften vielleicht geschafft hätten, Max zu retten, zu erkennen, was er brauchte.
»Ein Jugendlicher hat gestanden«, sagte Carrie in bitterem Ton. Davon hatte Brody noch nichts gehört. »Aber weißt du was?«
Er wusste, was sie jetzt sagen würde.
»Für mich hat sich nichts verändert. Es ist mir gleich, ob der Junge ins Gefängnis geht. Es ist mir gleich, wer es getan hat.« Carrie richtete sich auf und hielt Brody auf Armeslänge von sich, als könne er so den Schmerz in ihrem Gesicht sehen. »Das Schlimmste daran ist, dass man sich nicht auf solche schlimmen Dinge vorbereiten kann. Wir bilden uns ein, gegen so etwas immun zu sein.« Einen Augenblick lang schwiegen beide nachdenklich. »Aber das sind wir nicht. Letztendlich kann so etwas jedem passieren.«
Fiona brachte ihn vom Studio aus in ein Hotel. Wenn er in der Siedlung wohnte, so hatte er einmal geglaubt, würde er sich weiterhin als Teil einer Welt empfinden, die für ihn über Nacht verschwunden war. Doch mittlerweile zweifelte er daran, ob er die tiefen Einsichten, die er dadurch gewonnen hatte, überhaupt ertragen konnte. Dieser Ort war nicht gut für ihn. Und er war auch nicht gut für seinen Sohn gewesen. Es stimmte, was Carrie gesagt hatte: Sie hatten geglaubt, dass ihnen nichts Schlimmes geschehen könne. Was für eine Illusion.
Leah traf sie allein in ihrer Garderobe an. Das Studio hatte sich geleert, auch die Polizei war fort. Leah ging neben Carrie in die Hocke, die noch immer auf dem Drehstuhl saß und im grellen Licht ihr Spiegelbild anstarrte.
»Es ist Zeit zu gehen, Schätzchen«, sagte Leah.
Carrie hielt in ihrer kraftlosen Hand ein paar linierte Blätter, die auf beiden Seiten mit kritzeliger Schrift bedeckt waren. An manchen Stellen hatten runde Flecken die Tinte verschmiert – Tränen, dachte Leah, als sie Carries gerötete Augen sah.
»Das ist Max’ Aufsatz«, sagte Carrie. »Sein Lehrer hat ihn mir gegeben, als ich bei ihm war. Ich habe ihn in die Tasche gesteckt, weil ich es nicht gleich über mich brachte, ihn zu lesen.«
Leah nahm die Blätter. »Romeo und Julia«, las sie und lächelte schwach. »Erinnert mich an meine Prüfungen.«
»Lies es«, forderte Carrie sie auf und wandte den Kopf ab, als könne das ihren Schmerz lindern. »Lies den letzten Absatz.«
Sind wir denn
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