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Der fremde Sohn (German Edition)

Der fremde Sohn (German Edition)

Titel: Der fremde Sohn (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sam Hayes
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Knöchel verstaucht. Oder er war die Treppe hinuntergefallen und hatte sich das Handgelenk gebrochen. Aber warum, dachte Carrie, war sie dann ohne ein Wort aus dem Studio gerannt? Warum nur meldete sich ihr Mutterinstinkt – oder was sie dafür hielt – mit solcher Kraft?
    Carrie spürte, wie sich der Griff des Arztes um ihren Arm verstärkte.
    »Hier entlang, Mrs Kent. Ich bringe Sie zu jemandem, der Ihnen sagen kann, was geschehen ist.« Er lächelte beruhigend und führte Carrie in einen kleinen, weiß gestrichenen Raum mit einer Reihe von Stapelstühlen an der Wand. Auf dem niedrigen Tisch in der Mitte standen ein Gesteck aus künstlichen Blumen und eine Schachtel Kleenex. In einer Ecke, wohin sie zuerst gar nicht schauen wollte, befand sich ein weiterer Tisch mit einer weißen Decke. Darauf stand ein Kreuz.
    Es dauerte eine Sekunde, bis sich ihr Blick schärfte und sie deutlich sah, was ihr Gehirn bereits registriert hatte. Und plötzlich erkannte sie ihn. Wie ein großer Schatten saß Brody Quinell vor der hellen Wand, die Knie gespreizt, den Kopf in die Hände gestützt. Sein Haar, im Nacken zusammengebunden, war ungefähr dreißig Zentimeter länger als bei ihrer letzten Begegnung.
    »Brody?«, sagte sie. Empfand sie Erleichterung, weil sie dem, was ihr jetzt bevorstand, nicht allein gegenübertreten musste? Vielleicht konnte sie ja wieder zur Arbeit gehen und die Angelegenheit Brody überlassen.
    Als er ihre Stimme hörte, hob Brody langsam den Kopf. Neben ihm saß eine Frau. Carrie beachtete sie nicht.
    »Was ist los, Brody? Wo ist Max?«
    »Er ist tot.« Seine Stimme schien das Universum auszufüllen. »Unser Sohn ist tot.«

Herbst 2008

    V ierunddreißig Schüler waren in der Klasse, und nur fünf Aufsätze wurden abgegeben. Zwei davon stammten von Dayna. Max legte seine Arbeit obenauf.
    »Du warst ja fleißig«, sagte er.
    »Ich konnte mich nicht entscheiden, von welchem Standpunkt aus ich schreiben sollte.« Sie schwang sich den Rucksack über die Schulter. »Da dachte ich mir, ich versuche beides. Das hat mich wirklich zum Grübeln gebracht.«
    Max sah sie an und fragte sich, was sich wohl hinter diesen dunklen Augen abspielte. Plötzlich stolperte sie und prallte gegen die Spinde.
    »He!«, rief Max der Zicke zu, die sie angerempelt hatte. »Hast du dir weh getan?«, erkundigte er sich bei Dayna.
    »Nein, nichts passiert. Letztes Mal hat sie mich mit ihrer Zigarette verbrannt.« Dayna schob den Ärmel hoch und zeigte Max die rotglänzende Brandblase an ihrem Handgelenk. Sie zuckte die Achseln. »Das hab ich schließlich auch überlebt.«
    Max streckte die Hand aus, um die wunde Stelle zu berühren, doch Dayna zog den Arm weg. Dann begann die Mittagspause, und sie wurden im Strom der Schüler mitgeschoben. »Möchtest du was essen?«
    »Hab kein Geld.«
    »Komm mit«, sagte Max mit einem kleinen Lächeln, fasste Dayna am Arm und lotste sie durch die Menge zu seinem Spind. Mitten im Getümmel öffnete er den Schrank und holte eine Kühltasche heraus.
    »Das gibt Ärger, wenn du so was in die Schule mitbringst«, sagte sie und wich zurück.
    Max hob die Schultern. In dem Moment traf ihn ein Stiefel in der Kniekehle.
    »Verdammter Freak …«
    Max zuckte nur leicht zusammen. »Lass uns von hier verschwinden.« Mit festem Griff fasste er Daynas Hand und rannte mit ihr über den Flur, der sich zusehends leerte – die meisten Schüler waren bereits auf dem Weg zur Imbissbude, zum nächsten Schnellrestaurant oder, wenn ihnen gar nichts anderes übrigblieb, in die Schulmensa.
    Dayna und Max ignorierten die Anweisung der Pausenaufsicht, nicht zu rennen, liefen hinaus, überquerten den Parkplatz und zwängten sich durch eine Lücke im Holzzaun. Hier, außerhalb des Schulgeländes, zog sich ein Streifen mit Gestrüpp bewachsenen Ödlands bis zur Straße, wo es eine Reihe Läden und dahinter ein Gewerbegebiet gab. Bevor sie die Straße erreichten, bogen die beiden ab und schlugen sich weiter durch das Dickicht.
    »Da hinten ist ein Bach. Ich kenne hier die besten Plätze«, erklärte Max strahlend. Er bedeutete Dayna, ihm zu folgen, doch sie zögerte.
    »Ich weiß nicht recht, Max.« Sie kratzte sich am Bein, wo die Brennnesseln durch den Stoff ihrer Hose gedrungen waren.
    »Komm schon«, sagte Max und hielt die Kühltasche hoch.
    Dayna nickte und folgte ihm. Dabei murmelte sie vor sich hin, sie habe nicht gefrühstückt und stehe kurz vorm Verhungern. Endlich kamen sie zu einer Senke mit verdorrtem

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