Der fremde Sohn (German Edition)
halbgeöffneten Klappe in Quinells Richtung gedreht, vor sich auf den Tisch. Sie hatte eher ein Schnellrestaurant als ein teures Speiselokal erwartet und war erstaunt, dass er einen Maßanzug trug. Er hatte sich wirklich Mühe mit seinem Outfit gegeben, nachdem er bei ihrer letzten Begegnung in einer zerrissenen Jeans und einem verwaschenen Hemd auf dem Mäuerchen vor der Uni gehockt hatte. Die Publikation seiner Forschungsergebnisse der letzten vier Jahre hatte in den Vereinigten Staaten für erheblichen Wirbel gesorgt, und Carrie sollte nun für das Magazin SciTech über das Privatleben von Dr. Brody Quinell berichten.
»Ganz schön knackig, was?«, hatte Leah, ihre Fotografin und beste Freundin, ihr bei dem ersten Interviewtermin zugeraunt. Sie bemerkte sofort, wie Carrie Quinells schlanke Gestalt musterte.
»Nicht mein Typ«, erwiderte Carrie leise. Sie wollte nur das Interview hinter sich bringen und verschwinden. Doch nach und nach wurde er ihr sympathischer. Sie überredete ihn, den zerknüllten Notizzettel aus dem Mund zu nehmen, ihn glattzustreichen und einige Stichpunkte, die unleserlich geworden waren, für sie zu wiederholen. Schließlich gab sie sogar den Überredungskünsten des Mathematikgenies nach und erklärte sich bereit, mit ihm essen zu gehen. Er hatte für die NASA gearbeitet, wie er ihr im Vertrauen mitteilte, und war einmal sogar mit einer Astrophysikerin ausgegangen. Er versprach Carrie, ihr ausführlich zu berichten, von exklusiven Details über die mögliche Nutzung seiner Forschungsergebnisse bis hin zum Inhalt seines Kühlschranks. Und er gab zu bedenken, dass sie ihren Job aufs Spiel setzte, wenn sie sich die Chance entgehen ließ.
»Hübsches Lokal.« Carrie warf einen Blick auf die elegante Tapete und die makellosen Tischdecken. Seit ihrer Ankunft war das Gespräch noch nicht recht in Gang gekommen. Sie schaute auf die Uhr.
»Finden Sie?«, entgegnete Dr. Quinell. Er wirkte ein wenig gelangweilt, als sei seine überragende Intelligenz hier unterfordert.
Carrie lächelte zurückhaltend und hoffte, die Sache nicht zu verpatzen. Sie strich ihre Serviette glatt. »Ja.« Das war ja schrecklich, so würde sie nie etwas von ihm erfahren.
Er zuckte die Achseln. »Nach dem Essen wissen wir mehr, nicht wahr?« Er sah sie eindringlich an, und Carrie konnte den Blick einfach nicht abwenden. Etwas passierte zwischen ihnen. Sie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach, und bestellte ein Wasser. Dann spielte sie an ihrem Haar herum und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr das Herz vor Aufregung bis zum Hals schlug.
Kaum hatten sie ihre Vorspeisen verzehrt, schlug er vor zu gehen.
Im ersten Moment war sie verblüfft, beschloss jedoch rasch, sich nicht querzustellen. Alles war besser, als hier zu sitzen und zu spüren, wie er sie anstarrte, als wolle er sie knacken wie eine seiner blöden Gleichungen. Sie wollte sich nicht von ihm durchschauen lassen – es war ihr Job, ihn zu durchschauen.
Plötzlich war da wieder dieses Gefühl der Erregung, das ihren ganzen Körper durchdrang.
Er habe ein Apartment, sagte er, wo es Wein und genug zu essen gebe. Dort könnten sie sich besser entspannen .
Es wäre eine gute Gelegenheit, einen Blick in sein Privatleben zu werfen, redete sie sich ein, während ihre Phantasie schon auf die Reise ging.
Carrie schluckte, stand auf und nahm ihre Handtasche. Sie war noch nie zuvor so schnell mit einem Mann nach Hause gegangen. »Ja, warum nicht«, sagte sie, als habe er ihr lediglich noch ein Glas Wein angeboten. Sie nahm sich vor, die Story – ganz exklusiv – unter Dach und Fach zu bringen und dann schnell zu verschwinden.
Dr. Quinell hatte wirklich etwas Besonderes an sich, dachte sie, als sie gemeinsam auf ein Taxi warteten. Er übte eine geradezu magische Anziehungskraft auf sie aus. Doch gleichzeitig hätte sie ihn dafür ohrfeigen mögen, dass er sie derart aus dem Gleichgewicht brachte.
Kurz darauf betrat sie seine Wohnung. Die Ausstattung war zweckmäßig und unpersönlich, richtig spartanisch. Es gab nicht ein einziges Bild an der Wand und auch kein Kissen auf dem grauen Sofa.
Carrie stand in dem kahlen Apartment und kam sich vor wie eine winzige Ziffer in der Welt dieses bedeutenden Mannes, der sogar an der Erforschung des Mars mitgewirkt hatte. Plötzlich erschien ihr der Artikel für SciTech gänzlich unwichtig.
Zwei Stunden später fühlte sich Carrie, als hätte sie eine Reise zum Mars unternommen. Wie es dazu gekommen war,
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