Der fremde Sohn (German Edition)
musste sein. Außerdem machte er sich Sorgen um Carrie. Es sah ihr nicht ähnlich, einfach so wegzulaufen. Zum hundertsten Mal an diesem Morgen schaute er auf die Uhr. Wo zum Teufel war sie?
Leah hatte einen Anruf von Carrie bekommen und das Gespräch mit ihm daraufhin völlig aufgelöst abgebrochen. Dann war sie verschwunden. Er war nicht einmal dazu gekommen, sie zu fragen, warum Carrie aus dem Studio gelaufen war. Jetzt konnte er weder Carrie noch Leah erreichen, deren Einverständnis er ebenfalls brauchte. Die Sekretärin im Fernsehstudio hatte auch keine Ahnung, wo die beiden waren, versprach aber, seine Nachricht weiterzuleiten. Er hinterließ weitere Mitteilungen für den Sendeleiter und die Regieassistentin mit der Bitte, ihn umgehend anzurufen. Wenn der Fall nicht wenigstens fünf Minuten Sendezeit in der nächsten Show bekam, hatte es keinen Sinn. Zwar wollte er alles versuchen, um den Mord bis Ende nächster Woche aufzuklären, aber dennoch musste er für alle Fälle vorsorgen. Am besten wandte man sich an die Öffentlichkeit, solange die Meldungen aktuell waren und die Empörung hohe Wellen schlug. Schon eine einzige entscheidende Information konnte zur Festnahme des Täters führen. Er wollte und musste den Täter unbedingt finden, im Interesse der öffentlichen Sicherheit ebenso wie in seinem eigenen, denn der Commander hatte ihm unmissverständlich klargemacht, dass die Häufung von Messerstechereien in ihrem Bezirk bald ein Ende haben müsse.
Dennis stellte den Wagen ab, stieg aus und lief eilig die Stufen zu Carries Haus hinauf. Wenn sie nicht zu Hause war, wollte er die Suche aufgeben. Schließlich hatte er noch anderes zu tun. Gerade als er an ihre Tür klopfte, klingelte sein Handy.
»Ja?« Er hörte nicht mehr, was der Anrufer sagte, denn in diesem Augenblick hielt hinter ihm ein weiterer Wagen der Kripo, und jemand rief: »Warten Sie, Chef. Sollten wir uns nicht um die Sache kümmern?«
Dennis fuhr herum, das Handy noch am Ohr, und sah Al Marsh und Chris Rowe, während undeutlich eine Stimme aus dem Handy drang. »Al, Chris, was ist los?« Als er ihre Gesichter sah, drückte er das Telefongespräch weg.
»Waren Sie schon drin?« Chris Rowe zog seine Hose hoch.
»Was?«
»Haben Sie schon mit Carrie Kent gesprochen?« Al wirkte müde. Dennis wusste, dass sein Kollege in der letzten Nacht kaum Schlaf bekommen hatte.
»Nein, noch nicht. Warum seid ihr beide denn hier? Ihr solltet doch –«
»Chef.« Mit einer Kopfbewegung deutete Al auf die Tür, den Blick über Dennis’ Schulter gerichtet.
Dennis drehte sich um und runzelte verwirrt die Stirn. In der halbgeöffneten Tür stand Leah. Sie sah blass aus.
»Gut, dass du da bist«, sagte sie zu Dennis. »Kommen Sie doch rein«, forderte sie die zwei Polizisten auf.
Dennis trat in die kühle, dämmrige Eingangshalle. »Würde mir vielleicht mal jemand –«
»Schsch«, machte Leah. Sie wirkte niedergeschlagen, ihre sonst so geschäftsmäßig straffen Schultern waren gebeugt. Sie zog die Tür zum Wohnzimmer zu.
»Ist sie da drin?«, fragte Al.
Leah nickte.
»Wie geht es ihr?«
»Was denken Sie wohl?«
Dennis kam nicht mehr mit. Was ging hier vor sich?
»Ich habe sie hier gefunden, allein. Es war schrecklich.« Leah begann zu weinen.
Dennis, der allmählich die Geduld verlor, griff nach der Türklinke. Er musste unbedingt mit Carrie über die Show reden.
»Warte«, hörte er Leah sagen, und allmählich ging ihm ein Licht auf: die Schule, ganz in der Nähe … Aber das war unmöglich. Er versuchte, sich an den Namen des Jungen zu erinnern – wie hieß er noch? Matt?
Er öffnete die Tür. Auf der strahlend weißen Chaiselongue saß Carrie Kent mit bleichem, tränennassem Gesicht. Sie wirkte zerbrechlich, nichts erinnerte mehr an das Energiebündel, das Millionen von Fernsehzuschauern jeden Freitagmorgen zu sehen bekamen.
»Carrie?«
Ihre Augen waren gerötet, ihre Haare strähnig. Sie hatte die Beine unter sich gezogen. Die Füße mit den pinkfarbenen Nägeln schauten unter dem Kleidungsstück hervor, das sie trug. War das ein Krankenhausnachthemd?
»Hattest du einen Unfall?« Offenbar war sie tatsächlich im Krankenhaus gewesen, aber es schien nichts Ernstes zu sein. Halbwegs beruhigt ließ sich Dennis neben ihr nieder, so dass sie sich automatisch ein wenig zu ihm neigte. Sie starrte geradeaus. »Bist du verletzt?« Er berührte sie am Arm. Was dachten die im Krankenhaus sich dabei, sie in diesem Zustand zu
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