Der fremde Sohn (German Edition)
ihre Sendung. Sie war die bekannteste Fernsehmoderatorin des Jahres, wahrscheinlich aber auch die meistgeschmähte.
Nutznießerin des Elends: Fernsehstar lässt sich ihr Luxusleben von den Ärmsten der Armen finanzieren .
Carrie hatte über den Artikel gelacht. Sie hatte in das Interview eingewilligt, weil der junge Bursche, der so wild auf Insiderinformationen war, sie an ihre eigenen frühen Jahre als Reporterin erinnerte, als sie darum kämpfte, sich einen Namen zu machen. Der Artikel hatte eine Flut ähnlicher Berichte ausgelöst, darunter einige, die in ihrer Vergangenheit nach Dreck wühlten – Drogen, Glücksspiel, Schulden, Prostitution, Missbrauch. Wieder hatte Carrie nur gelacht, denn sie hatten nichts gefunden. Weil es nichts zu finden gab.
»Neiiiin …« Der Schrei fuhr durch ihren Körper, als sei sie es, die erstochen wurde. Sie warf sich auf die Seite und zog sich das Kissen über den Kopf. Das Gesicht in den weichen Daunen vergraben, betete sie darum, ersticken zu dürfen. Nebenan, auf der anderen Seite der Wand, lag Max’ Zimmer. Angefüllt mit seinen Sachen, seinem Geruch, den Überresten seines Lebens. Wie sollte sie dieses Zimmer jemals wieder betreten? Ganz einfach, gar nicht.
Das Telefon klingelte.
Carrie griff danach. Es war ihre Verbindung zur Außenwelt. Dabei kam sie sich vor, als sei sie der letzte lebende Mensch auf Erden.
»Hallo?« Ihre Stimme klang fremd.
»O Carrie, Carrie. Du bist zu Hause.«
»Leah.«
»Ich komme sofort zu dir, Schätzchen. Im Krankenhaus wollten sie mich nicht zu dir lassen. Und als ich mich endlich durchsetzen konnte, hieß es, du wärst nicht mehr da.«
Stille.
»Carrie?«
»Komm einfach.«
Die beiden Frauen hielten einander fest umschlungen, und Leah wiegte ihre Freundin tröstend hin und her. Später kochte sie Tee, doch der wurde unberührt kalt. Ein paar Werbebroschüren glitten durch den klappernden Briefschlitz und fielen auf die Fußmatte.
»Alle anderen machen einfach weiter. Können sie nicht damit aufhören?« Carrie putzte sich die Nase, obwohl sie gar nicht weinte. Ihre Augen waren trocken und ausdruckslos, als sei sie weit weg. »Wo bleibt die verdammte Polizei?«
Leah hatte wieder beide Arme um Carries Schultern gelegt und wiegte sie sanft im Rhythmus ihres Atems. »Hast du noch nicht mit ihnen gesprochen?«
Carrie schüttelte den Kopf. »Ich bin im Krankenhaus ohnmächtig geworden und habe mir den Kopf angeschlagen.«
»Vielleicht wollten sie warten, bis es dir … besser geht.«
Carrie starrte vor sich hin. »Ich bekam nur einen Anruf von der Schule. Als hätte er sich den Knöchel verstaucht oder so. Die Schulsekretärin fragte, ob ich zum Krankenhaus fahren könnte. Ich habe nicht damit gerechnet, dass mein Sohn … dass er …« Carrie schluckte. Wenn sie den Kloß in ihrer Kehle nicht beachtete, würde er vielleicht von selbst verschwinden. »Dennis hat eine Nachricht hinterlassen. Ich soll ihn anrufen.«
»Pfeif auf die Show«, sagte Leah. »Ich werde Dennis anrufen, damit er jemanden schickt, der uns Auskunft geben kann. Er muss doch etwas wissen. Ich kann es gar nicht fassen, dass du hier ganz allein gesessen hast.«
»Glaubst du, es ist, weil …« Carrie zögerte. »Leah, meinst du, Max wurde … Meinst du, sie haben es meinetwegen getan? Wegen dem, was ich mache?«
Leah schüttelte energisch den Kopf. »Nein, nein. Auf keinen Fall.« Sie zog Carrie an ihre Brust. »Die Polizei wird den Dreckskerl schon kriegen. In der tiefsten Hölle soll er schmoren.«
Wieder schwiegen beide.
»Jetzt bin ich ganz allein«, sagte Carrie, ohne mit einer Erwiderung zu rechnen. Sie dachte an die Zeit, als sie noch zu dritt waren: Brody, sie selbst, Max. Eine glückliche Familie.
Blind, geschieden, tot, schoss es ihr durch den Kopf.
Endlich brach Carrie in Tränen aus.
Er nahm immer zwei Stufen auf einmal. Endlich kam Bewegung in die Sache. Er kam gerade von Daynas Haus, zum zweiten Mal an diesem Tag, und nachdem sie das Mädchen so sehr unter Druck gesetzt hatten, wie er es verantworten konnte, hatten sich Dennis und Al getrennt. Al sollte zusammen mit Chris ein erstes Gespräch mit den Eltern des Jungen führen. Dabei hatte er es Jess überlassen, die Einzelheiten zu regeln.
Jetzt würde er erst einmal Carrie Kent ausfindig machen und sie bitten, den Fall noch in ihre Show nächste Woche aufzunehmen. Seine Vorgesetzten würden es nicht gutheißen, dass er sich unmittelbar nach der Messerstecherei darum kümmerte, aber es
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