Der fremde Sohn (German Edition)
Dennis saß so dicht neben Carrie, dass sie seine Ungeduld spüren konnte. Sie wandte den Blick ab.
»Da gab es angeblich ein paar Mitschüler, die gemein zu ihm waren oder so.« Carrie strich sich die Haare aus dem Gesicht. Ihre Stimme war nur ein Flüstern, kaum hörbar. Ob etwas wahr wurde, wenn man es aussprach? »Max war anders. Sensibel.« Bei den wenigen Gelegenheiten, als Dennis bei ihr übernachtete, hatte sie ihm Max nie vorgestellt. Entweder war Dennis schon fort, wenn Max aufstand, oder umgekehrt. Und sie war damals froh darüber gewesen. Max hätte nur Theater gemacht, wenn er ihrem Liebhaber begegnet wäre.
»Wurde er gemobbt?«
Carrie dachte nach. Seit sie die Show machte, hatte sie schon einige dieser Menschenquäler getroffen: Eltern, die ihre Kinder einschüchterten, Chefs, die ihren Angestellten das Leben zur Hölle machten, gewalttätige Männer, die ihre Frauen ins Frauenhaus trieben.
»Nein, ganz bestimmt nicht«, antwortete sie. »Das hätte er mir erzählt.« Ihr war schlecht.
»Aber du sagtest doch gerade, da waren ein paar gemeine Schüler, die –«
»Ich habe nicht gesagt, dass sie Max gemobbt haben. Das ist doch wohl ein Unterschied, oder nicht?«
Dennis blickte skeptisch drein.
»Und wie ist er in der hiesigen öffentlichen Schule zurechtgekommen?«
»Es ist keine hiesige Schule.« Für einen Augenblick vergrub Carrie ihr Gesicht in den Händen. »Die Schule ist in Harlesden, wo sein Vater wohnt.«
Hampstead und Harlesden, dazwischen nur eine kurze Fahrt mit dem Bus oder mit der vom Chauffeur gesteuerten Limousine. Doch deutlicher als je zuvor erkannte sie nun die Kluft zwischen den beiden Vierteln. Genauso waren das triste Dasein der verzweifelten Menschen in ihrer Show und ihr eigenes privilegiertes Leben Lichtjahre voneinander entfernt – und dennoch auf unselige Weise miteinander verquickt.
Und dann gab es noch Brody und sie, eine Ehe, die von Anfang an zum Scheitern verurteilt war.
Mutter und Sohn.
Ihr früheres und ihr jetziges Dasein.
Schwarz und weiß.
»Ist es in der Schule passiert?« Die Wahrheit sickerte in ihr Bewusstsein. Plötzliche Klarheit.
Dennis nickte.
»Ich will den Tatort sehen.« Sie war noch kein einziges Mal an seiner Schule gewesen.
Dennis warf einen Blick zu seinen Kollegen, die nickten. »Wenn wir hier fertig sind.« Dann fuhr er fort: »Carrie, gehörte dein Sohn einer Jugendbande an? Vielleicht ist er ja an seiner neuen Schule in schlechte Gesellschaft geraten. Nahm er Drogen? Trank er?«
»Warum fragst du mich das alles? Natürlich nicht. Max war ein guter Junge.« Carrie massierte sich die Schläfen. Sie hatte unerträgliche Kopfschmerzen. Max hätte sich nie einer Bande angeschlossen.
»Soll ich dir eine Schmerztablette bringen?« Leah, die neben ihr gehockt hatte, erhob sich und holte eine Medikamentenpackung.
Carrie schluckte eine Tablette und begann, sich hin und her zu wiegen. »Das hätte nicht geschehen dürfen. Er war doch mein Sohn. Meinen Sohn nimmt mir niemand weg.«
»Carrie …«
Plötzlich stand sie auf, eilte in die Küche und klappte den Deckel ihres Laptops auf. Mit flinken Fingern tippte sie das Passwort ein, und der Computer fuhr hoch. »Die ersten Worte meines Sohnes«, sagte sie zu den Detectives, die ihr gefolgt waren. Dabei liefen ihr Tränen über das Gesicht. »Ich war die Einzige, die sie gehört hat.«
Kraftlos ging Carrie in die Knie und kauerte sich auf dem Fußboden zusammen. Dabei fragte sie sich, wer wohl Max’ letzte Worte gehört hatte.
Niemand bemerkte, dass Dayna das Haus verließ. Kev hatte schlechte Laune und ließ sie an jedem aus, der ihm über den Weg lief. Er war wieder einmal entlassen worden. »Keine Arbeit mehr«, hatte er verkündet. »Die ganzen Jobs verdunsten einfach wie Hundepisse in der Sonne.« Sein Glas Bier und seine Flasche Whisky hatte er sich trotzdem noch leisten können, stellte sie fest, während sie die Treppe hinunterlief. Sie zog ihre Jacke an und ging hinaus. Ihre Mutter und Kev stritten in der Küche, weil die Polizei im Haus herumgeschnüffelt hatte. Sie hatten Angst um ihre Sozialhilfe. Lorrell saß auf dem Boden und plärrte.
Draußen war es kühler als am Morgen. Dayna konnte noch immer nicht glauben, dass er wirklich tot war. Das war doch Irrsinn. Während sie mit großen Schritten die Straße entlangging, drehte sich alles in ihrem Kopf. Plötzlich erschien ihr der Weg, den sie seit Jahren zweimal täglich zurücklegte, fremd. Die Nachbarschaft war ihr nie
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