Der fremde Sohn (German Edition)
besonders hässlich vorgekommen, doch heute wirkte die Gegend unwirtlich. Reihe um Reihe, so weit ihre geröteten Augen sehen konnten, zogen sich die Häuser mit ihren Rauputzfassaden und Alu-Fensterrahmen bis zum Horizont. Die einzige Abwechslung, der einzige Farbfleck, der den Blick auf sich zog, war eine knallrote Chipstüte, die vom Wind im Kreis herumgewirbelt wurde. Dayna hob sie auf und steckte sie in die Tasche. Sie konnte es nicht leiden, wenn Müll herumlag.
Zehn Minuten später kam über den Dächern das oberste Stockwerk des Naturwissenschaftstrakts in Sicht. Sie dachte an die endlosen unsinnigen Stunden, die sie dort verbrachte, das Kinn in die Hand gestützt, der Hintern ganz taub von diesen blöden Holzhockern. Am liebsten hätte sie all die bunten Chemikalien zusammengekippt, um zu beobachten, wie alles in die Luft flog.
Am Rand des Schulgeländes herrschte immer noch hektische Betriebsamkeit. Von dort, wo sie stand, konnte sie die leuchtend gelben Jacken sehen, das grelle Absperrband, das im Wind flatterte, das flackernde Blaulicht eines Polizeiwagens.
Wenn sie jetzt um die Ecke bog, könnte man sie vom Schultor aus sehen. Daher hielt sie sich im Schatten, ging vorsichtig ein paar Schritte und reckte den Hals. Hinter dem Absperrband stand eine Art Zelt, darin vier Männer in weißen Schutzanzügen, die auf allen vieren herumkrochen. Sie suchen nach Spuren von Max, dachte sie.
Eigentlich hatte Dayna vorgehabt, sich die Stelle noch einmal genau anzugucken, um sich davon zu überzeugen, dass es tatsächlich geschehen war. Denn im Augenblick kam ihr alles ganz unwirklich vor. Das Einzige, an das sie sich noch genau erinnern konnte, war die bittere Galle in ihrem Mund. War der Blutfleck noch frisch, oder hatten sie ihn bereits abgewaschen, überlegte sie im Weitergehen. Sie beschleunigte ihre Schritte und lief tapfer an der Absperrung entlang. Sie wollte nur rasch einen Blick wagen, es würde sie schon keiner bemerken. Sonst nahm ja auch nie jemand Notiz von ihr, es sei denn, um sie zu verprügeln.
Im Vorbeigehen schaute sie hinüber, aber es standen zu viele Leute im Weg. Ihr Blick fiel auf die Stelle, wo sie Max zuletzt mit den Rettungssanitätern gesehen hatte.
Erinnere dich, dachte sie. Dreh die Zeit zurück.
Sie presste eine Hand auf ihren Leib. Der Bauch tat ihr weh, und sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
Neben ihr parkte ein Wagen. Dayna musste ausweichen, als die Tür weit aufschwang. Eine Frau stieg aus.
Dayna ging noch ein paar Schritte zur Seite und musterte die Frau.
Kannte sie die nicht irgendwoher?
Sie trat ein wenig zurück, zog ihre Jacke enger um sich und starrte der Frau nach, die, von zwei Polizisten flankiert, das Schulgelände betrat. Einer von ihnen war der Polizist, den Dayna kannte. Die Frau, fand sie, sah leblos und schrecklich traurig aus.
Plötzlich fiel es ihr wieder ein. War das nicht die aus dem Fernsehen? »Ach!«, rief Dayna unwillkürlich aus.
Die blonde Frau blieb stehen und drehte sich um. Sie schob ihre dunkle Brille hoch und blickte Dayna an. Sie hatte geweint. Die Frau öffnete den Mund, um etwas zu sagen, setzte dann aber nur die Brille wieder auf und ließ sich auf den Schulhof führen.
Sie ist es wirklich, dachte Dayna, und ihr Herz begann zu rasen. Was wollte Carrie Kent denn hier? Machten sie jetzt schon Aufnahmen für die Show? Sollte Max etwa ins Fernsehen kommen?
»O nein«, flüsterte Dayna. Wie von selbst setzten sich ihre Beine in Bewegung. »Nein, nein …«, rief sie immer wieder, während sie die Straße hinunterrannte. Sie hatte selbst gesehen, wie diese Frau mit Menschen umsprang.
Dayna lief zum Schuppen. Sie wollte Max nahe sein. Das heute war gar nicht wirklich geschehen. Sie brauchte nur abzuwarten, dann wäre morgen alles wieder gut.
Dennis wollte, dass sie das Blut sah. Die Spurensicherung hatte die Stelle fotografiert und war jetzt dabei, sie eingehend zu untersuchen. Diverse Fundstücke befanden sich bereits auf dem Weg zur Laboranalyse. Es sah nach Regen aus, und obwohl sie ein Zelt über dem Tatort errichtet hatten, mussten sie rasch arbeiten. Sie durften nicht riskieren, dass Beweismaterial vernichtet wurde.
»Ist es hier?«, fragte Carrie.
Dennis nickte. Fast kam es ihm so vor, als seien sie auf der Suche nach einem Drehort. Er war so vertraut mit Begriffen wie Aufnahmetechnik, Kamerawinkel oder Beleuchtung, dass er sich ins Bewusstsein rufen musste, dass es hier um Carries ganz persönlichen
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