Der fremde Sohn (German Edition)
nicht richtig an, nicht so wie sonst, wenn sie morgens nachsah, wer in ihrer Show mitmachen würde, und die Mitteilungen ihrer Agentin über die Buchungen, Interviews und Auftritte der Woche las. »Leah?« Carrie umklammerte die Kante der Arbeitsplatte. Die Worte waren wie Sand in ihrem Mund.
»Erinnerst du dich noch an den Anruf von der Schule, Carrie? Und dass du im Krankenhaus warst?«
Carrie spürte, wie Leahs Haare sie im Gesicht kitzelten, als ihre Freundin sie in die Arme nahm.
»Ja, ich glaube schon.« Carrie entzog sich der Umarmung und stand auf, um sich noch einen Kaffee zu holen, aber die Kanne war leer. Der Kaffee hatte dafür gesorgt, dass ihr Herz nun schneller schlug und das Blut rascher durch die Adern pumpte.
»Ich mache noch welchen.« Leah goss Wasser in die Kaffeemaschine. »Dennis möchte mit dir sprechen. Es muss sein.«
»Ja.« Mit klickenden Absätzen ging Carrie durch die Küche. »Warum?«, fragte sie dann. Doch auf einmal dämmerte es ihr. »Ist es wegen Max?« Carrie ließ die Füße seitlich aus den Schuhen gleiten.
»Ja, genau.« Leah führte sie ins Wohnzimmer, in dem sich mehrere Polizisten drängten. »Rede mit Dennis über Max, Schätzchen.«
Carrie war es gewohnt, dass in ihrer Gegenwart alle verstummten. Sie mochte es, wenn aller Augen auf sie gerichtet waren, und genoss es, der Ehrengast bei Empfängen und der Eröffnung von Einkaufszentren zu sein. Und sie war gern in spätabendlichen Talkshows zu Gast. Wenn sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, war Carrie Kent glücklich. Doch heute war alles anders.
»Ich muss dir ein paar Fragen stellen, Carrie. Und außerdem brauche ich deine Erlaubnis, ein paar von Max’ Sachen für die Analyse mitzunehmen.«
»Klar, kein Problem«, antwortete sie. Sie fühlte sich besser, wenn sie saß, den langen Rücken vom weißen Leder der Chaiselongue gestützt. Dann war ihr nicht so wirr im Kopf.
»Zuerst muss ich dich fragen, ob Max Feinde hatte. Es scheint ja auf der Hand zu liegen, aber wenn wir es sicher wüssten, könnte es uns die Sache erheblich leichter machen. Gibt es jemanden, mit dem er sich gestritten hat?«
Leichter? Ihr kam es nicht so vor, als würde irgendetwas jemals wieder leicht sein, auch wenn sie in ihrer Verwirrung noch nicht begriff, warum das so war. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Lippen anschwellen.
»Er hatte keine Feinde.«
»Bist du sicher?«
Sie runzelte ein wenig die Stirn. »Er war ein ruhiger Junge.« Carrie dachte daran, wie sie ihm gesagt hatte, er solle nicht solchen Lärm auf der Gitarre machen. Er hatte sofort gehorcht, und im Haus war es wieder still und friedlich geworden. Ihr kam es vor, als hörte sie ein Schluchzen. »Ich glaube nicht, dass er Feinde hatte.«
Sie spürte ein Ziehen im Herzen.
»Und was war mit der Schule?«
»Schule?« Carrie ließ die Augen zufallen und sah einen kleinen achtjährigen Jungen, der stolz in seiner neuen Schuluniform posierte. Sie hatten sie gerade gekauft, und er hatte verlangt, dass sie ein Foto von ihm in seinem Blazer und mit der Kappe machte. Weinrot und grün. »Als er acht war, kam er auf ein Internat.« Jetzt erschien vor ihrem inneren Auge das Bild eines älteren Max, eines jungen Mannes mit ein paar spärlichen Bartstoppeln und kurzgeschnittenem Haar, mit dem er ganz anders wirkte als mit seinen kindlichen Locken. Dann ein Bild, wie er mit den Fäusten gegen die Wand hämmerte und brüllte, er halte es nicht mehr aus und wolle abhauen.
Es tat so weh.
Außer ihr selbst zählte Carrie sechs weitere Personen im Zimmer. Dabei war sie nicht einmal sicher, ob sie überhaupt anwesend war. Es schien, als habe sich ihre Seele vom Körper gelöst und sei der Wirklichkeit entflohen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, wenn diese Trennung endgültig gewesen wäre. Sie zählte die Scheiben in den Sprossenfenstern. Sechsunddreißig.
»Erzähl mir von seiner jetzigen Schule.«
Dazu hätte es so viel zu sagen gegeben. Sie fasste es knapp zusammen: »Er war Durchschnitt.«
Warum kam ihr gerade das in den Sinn?
»Wie lange ging er schon auf die Milton Park High?«
Carrie musste überlegen, welchen Monat sie hatten. April. Ihr Geburtstag lag noch nicht lange zurück. Max hatte ihr einen Gartenschredder geschenkt, in rosafarbenes Papier verpackt. Sie hatte ihn in die Garage gestellt für den Mann, der immer donnerstags kam und den Garten pflegte.
»Seit letztem September. 2008. Im Schulhalbjahr davor war er von Denningham abgegangen.«
»Wieso?«
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