Der fremde Sohn (German Edition)
er etwas mit seiner Mutter unternehmen? Eher unwahrscheinlich. Mit einer Freundin? Ging er mit einem Mädchen? Das wäre ein gutes Zeichen. Vielleicht hatte er auch nur jede Menge Hausaufgaben zu erledigen. Aber wie konnte das sein, wenn er wirklich so oft schwänzte, wie die Schulsekretärin behauptete?
»Also schön, mein Sohn. Dann–«
»Brody, er ist schon weg.« Fiona ergriff seinen Unterarm, doch das tröstete ihn nicht. Jedes Mal, wenn Max fortging, hatte er, Brody, das Gefühl, dass erneut eine Gelegenheit verstrichen war, die Dinge wieder ins Lot zu bringen.
»Ah, okay.« Brody setzte sich in Bewegung, und Fiona zog ihn in die richtige Richtung. »Bring mich zum Wagen.«
»Selbstverständlich«, antwortete sie. »Aber nur, wenn du mir sagst, worum es eigentlich geht.«
Nachdem er sich angeschnallt hatte, tastete Brody auf dem Armaturenbrett nach dem Schalter für die Klimaanlage. Es war gar nicht so warm, aber er schwitzte dennoch. »Was soll die Erpressung?«
Er hörte sie lachen. Das kam nicht oft vor, Fiona war immer ziemlich angespannt. »Was heißt hier Erpressung? Ich will einfach wissen, worum es geht.«
Brody antwortete nicht. Er hörte es knirschen, als sie den ersten Gang einlegte und losfuhr. Das machte sie immer, nie trat sie die Kupplung richtig durch. Einmal hatte er sie vom Fahrersitz gedrängt und sich selbst ans Steuer gesetzt. »Du musst nur für mich sehen. Links oder rechts, schnell oder langsam.« Sie hatten noch nicht einmal den Uniparkplatz verlassen, da hatte sich Brody schon den linken Kotflügel an der Pförtnerloge verbeult.
»Da siehst du, was du angerichtet hast«, hatte Fiona ihn angefahren und über die Delle im Blech gestrichen.
Natürlich hatte er es nicht gesehen. Aber jetzt sah er vollkommen klar, was vor sich ging. Während Fiona erst in den dritten, dann in den vierten Gang schaltete, stellte er sich vor, wie die Schüler nach der Mittagspause widerwillig die Schule betraten. Nur Max bog vor dem Eingang ab und lief hinunter zum Kanal oder zur Bahntrasse, um zu rauchen und nachzudenken, vor allem über die Katastrophe, die seine Familie und sein Leben darstellten.
»Worum es hier geht? Darum, meinen Sohn zu retten«, sagte er langsam.
»Wovor?«
Als sie an einer Kreuzung warteten, hörte er den Blinker ticken und die Gedanken in Fionas Kopf förmlich herumsurren. Ob sie sich alles zusammenreimen konnte, sein Interesse für die Jungs in dem Restaurant, das Buch über Mobbing, das sie ihm vorlesen sollte, seine Besuche an der Schule?
»Spielt keine Rolle«, antwortete Brody und dachte, dass Max nicht nur vor den Rüpeln in der Schule, sondern vor allem vor seiner Familie gerettet werden musste.
Freitag, 24. April 2009
A m Nachmittag hatte Carrie es endlich geschafft, sich eine Hose und einen schlichten Pullover anzuziehen. Sie saß in der Küche. Was taten die vielen Leute in ihrem Haus? Alles wirkte verschwommen. Sie verstand das nicht. Jemand hatte ihr einen Kaffee gemacht.
Sie beobachtete sich selbst dabei, wie sie seltsam gelassen ihren Laptop aufklappte. Ihre Finger kribbelten, und ihre Haut glühte, als habe sie in der Sonne gelegen, doch ihr Herz schlug langsam, wie unterkühlt. Vielleicht war sie ja hungrig und hatte es nur nicht bemerkt.
»Sie sagen, so etwas passiert leider sehr oft in letzter Zeit, Carrie.« Leahs Stimme zerriss den Schleier. »Mach es dir doch irgendwo bequem.« Eine Hand lag auf ihrer Schulter, eine zweite an ihrer Taille.
»Aber ich möchte meine E-Mails lesen.« Auf einem Küchenhocker sitzend, einen Fuß um die Stützstange gehakt, versuchte Carrie, sich einzuloggen. »Hier sitze ich immer, um eine Kleinigkeit zu essen, und lese manchmal auch meine Mails.« Sie gab seufzend ein Passwort ein. Mit einem Piepton verweigerte der Computer den Zugang.
»Aber ich finde, heute solltest du es dir bequem machen. Komm, setz dich doch hier drüben hin.«
»Nein.« Erneut gab Carrie das Passwort ein. Wieder nichts. Sie wandte den Kopf und blickte die Frau neben ihr an. Es war eindeutig Leah, doch sie wirkte ganz unscharf, wie eine Aufnahme mit Weichzeichner. Carrie fand sie wunderschön.
Carrie schüttelte irritiert den Kopf. »Warum kann ich mich nicht an mein Passwort erinnern?«
»Weil du unter Schock stehst. Die E-Mails sind doch jetzt egal. Ich wünschte, du würdest –«
»Ich will jetzt, dass mir dieses verdammte Passwort wieder einfällt!« Sie drückte noch ein paar Tasten, doch die Kombination fühlte sich irgendwie
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