Der fremde Sohn (German Edition)
private Internat verlassen hatte. Brody war ohnehin nie begeistert davon gewesen – damals, als sein Sohn acht Jahre alt war, hatte er sich einfach darauf verlassen, dass Carrie aus ihrem mütterlichen Instinkt heraus die richtige Entscheidung für ihren gemeinsamen Sohn treffen würde.
Brody schlug das Herz bis zum Hals. Hier also hockte Max jeden Morgen trübsinnig herum, zunehmend gebeugt unter der Last seines Rucksacks und seines Lebens. Natürlich konnte Brody die Örtlichkeiten nicht sehen, doch die Schwärze vor seinen Augen erschien ihm symbolhaft dafür, wie Max zumute sein musste, dass er sich so verhielt. Wohin ging er, wenn er die Schule schwänzte, fragte sich Brody. Viermal hatte ihn deswegen die Schulsekretärin bereits angerufen, und wenn sein Sohn so weitermachte, stand ihm, Brody, ein Gespräch mit dem Schulleiter bevor. Er hatte vorgehabt, mit Max darüber zu reden – welcher Vater täte das nicht? –, aber er hatte nie eine geeignete Gelegenheit gefunden. Im Geiste war Brody eine mögliche Unterhaltung mit seinem Sohn durchgegangen, dann jedoch zu dem Schluss gekommen, dass ihr ohnehin schon gespanntes Verhältnis noch mehr darunter leiden würde. Im Augenblick war es für Max ein Balanceakt, sich in der neuen Schule einzugewöhnen und gleichzeitig mit seiner Mutter zurechtzukommen, die auf seine Entscheidung, Denningham zu verlassen, mit Sicherheit wutentbrannt reagiert hatte. Er wollte dem Jungen nun einfach nicht noch mehr zumuten. Nicht gerade jetzt. Und außerdem: Was machte es schon, wenn Max ein paar Stunden versäumte?
Doch diese SMS letzte Woche hatten Brody dazu veranlasst, aktiv zu werden. Wenn Max davon erführe, würde er außer sich geraten. Pass bloß auf, verdammter Loser … Wir beobachten dich, du dreckiger Abschaum … Ein Wort, und wir reißen dir in der Schule den Arsch auf … Wir wissen, dass du deine eigene Mutter gefickt hast, du Wichser …
»Was machen sie jetzt?«, fragte er Fiona.
»Nichts. Sie sind einfach wieder in die Schule gegangen wie brave kleine Jungs.«
Brody stellte sich vor, wie Fiona mit zusammengekniffenen Augen durch das Schultor spähte, und plötzlich fiel ihm ein, dass er sich in all den Jahren, die sie schon miteinander arbeiteten, nicht ein einziges Mal gefragt hatte, wie sie wohl aussah. In seiner Welt war Aussehen zweitrangig. Wenn er raten müsste, würde er darauf tippen, dass sie rothaarig war – ein zierliches, munteres kleines Ding mit einer Nase voller Sommersprossen, die sie unter einer Schicht Puder zu verbergen versuchte. Er konnte es manchmal riechen.
»Kannst du sie noch sehen?«
»Brody …«
Er schwieg.
»Hat das zufällig was mit Max zu tun?«
Schweigen.
»Ist es so?«
»Warum?« Er wollte wirklich nicht über seinen Sohn reden.
»Weil er gerade direkt auf uns zukommt.«
Brody ließ Fionas Arm los. Verdammt, verdammt, verdammt! Dass er Max in die Arme laufen könnte, damit hatte er nicht gerechnet.
»Hallo, Max«, sagte Fiona.
Brody bemerkte den besonderen Tonfall. Vorsicht, dachte er.
In Besprechungen oder wenn sie Kollegen trafen, ergriff sie die Initiative, nannte ihm die Namen und sprach in die jeweilige Richtung. So wusste Brody immer sofort, wo sich der Betreffende befand. Sie ersetzte ihm die Augen, und sie machte es gut. Das konnte er nicht leugnen.
»Dad, was machst du denn hier?« In Max’ Stimme schwang ein entrüsteter Unterton mit.
Brody druckste herum wie ein verlegener Teenager, der bei etwas Verbotenem ertappt worden war.
»Spionierst du mir nach?« Max lachte gezwungen.
Wenn ich an seiner Stelle wäre, dachte Brody, wäre ich wohl auch sauer.
»Vielen Dank dafür, Dad, dass du hier herumstolzierst wie ein …«
»Halt, sag es nicht!«, bat Brody mit abwehrend erhobenen Händen. Kinder konnten wirklich grausam sein.
»Dein Vater und ich kommen gerade vom Mittagessen und sind auf dem Weg zum Auto«, schaltete sich Fiona ein.
»Aha«, sagte Max mürrisch. »Weißt du, mir geht’s gut, Dad. Ich habe als Nächstes Englisch und dann eine Doppelstunde Physik. Wir behandeln gerade Schallwellen.«
»Prima.« Brody hörte, wie sein Sohn mit dem Turnschuh auf dem Asphalt herumscharrte. »Komm doch heute Abend zum Essen, wenn du magst. Ich koche uns was.« Brody bemühte sich um einen kumpelhaften Ton, in dem die Aussicht auf Fastfood, ein Bier, einen Film und Blödeleien mitschwang. Dann konnten sie miteinander reden.
»Nö, hab schon was vor.«
Brody hätte gern gefragt, was. Wollte
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