Der fremde Sohn (German Edition)
Jemanden, mit dem er sich gut verstand, mit dem er reden konnte?«
Brody überlegte. »Ich glaube nicht.« Auf einmal fühlte er sich niedergeschlagen und leer. Vielleicht hatte sich auch Max so gefühlt, weil er jemanden zum Reden brauchte. »Manchmal hat er mit mir geredet.« Nicht oft genug, dachte Brody.
»Hatte Max ein Zimmer hier, und wenn ja, dürften wir es mal sehen?«
»Wenn Max über Nacht blieb, dann schlief er auf der Couch.« Was war er bloß für ein Vater gewesen, durchfuhr es ihn, dass er noch nicht einmal dafür gesorgt hatte, dass sein Sohn bei ihm ein Zimmer besaß. »Die Wohnung hier hat nur ein Schlafzimmer«, fügte Brody erklärend hinzu. »Aber er hatte ein paar Sachen in der Schublade da drüben untergebracht.« Er deutete auf die Kommode.
»Dürften wir mal einen Blick darauf werfen?«
»Nur zu.« Dinge bedeuteten Brody nichts. Sollten sie ruhig mitnehmen, was sie wollten. All das würde seinen Sohn nicht wieder lebendig machen. Er hörte, wie eine Schublade aufgezogen wurde, dann das Rascheln von Papier und ein Klappern, anschließend wurde die Schublade wieder zugeschoben.
»Ich nehme die Broschüren hier mit, wenn ich darf, Herr Professor. Wir müssen uns ein Bild von Max machen.«
Ich auch, dachte Brody und empfand eine schmerzliche Leere im Herzen. Ich auch.
Zurück im Büro, fand DCI Masters mehrere E-Mails mit Zeugenaussagen und eingescannten Aufnahmen von Überwachungskameras vor. Der vorläufige Autopsiebericht besagte, dass die Klinge der tödlichen Waffe ungefähr zwölf bis fünfzehn Zentimeter lang gewesen war, mit glatter Schneide.
»Aha«, bemerkte Dennis, während er die Aufnahme von Max’ nacktem Rumpf vergrößerte und den Kopf neigte, um die Wunden besser erkennen zu können, die kreuz und quer auf dem Körper des Jungen verliefen – ein halbes Dutzend saubere, mahagonifarbene Schnitte in der dunklen Haut. Rasch überflog Dennis den Rest des vorläufigen Berichts. Anhand der Blutproben konnte eine geringe Menge Cannabis, jedoch kein Alkohol nachgewiesen werden. Nach eingehender Untersuchung der Leiche sollte ein ausführlicher Bericht folgen. »Furchtbar«, hörte er sich selbst sagen. Dabei dachte er vielleicht eher an Carries Zukunft als an den gesichtslosen Torso auf dem Bildschirm. Er öffnete eine andere Datei, eine Zusammenfassung der Befragungen in der Schule. Am Ende wurde empfohlen, Samms und Driscoll zu einer weiteren Vernehmung auf die Polizeidienststelle zu holen.
Mit einem Blick auf die Uhr griff Dennis zum Telefon. »Hol die kleinen Stinker her«, sagte er. Es würde eine lange Nacht werden.
Vergangenheit
C arrie glaubte nicht, dass sie schon wütend zur Welt gekommen war. Und ebenso wenig, dass sie von Natur aus dazu neigte, Dinge – die ganze Welt – in Ordnung bringen zu wollen. »Angeboren oder anerzogen?«, fragte ihre Mutter immer, wenn Carrie von der Uni nach Hause kam und ihrem Ärger über irgendwelche Missstände Luft machte.
»Ich weiß nicht, woher du das hast, Caroline Kent. Von meiner Seite bestimmt nicht. Dabei warst du so ein stilles kleines Mädchen.«
Carrie konnte sich nicht erinnern, jemals still gewesen zu sein. Seit sie denken konnte, fühlte sie sich ihren strengen Moralvorstellungen verpflichtet und handelte dementsprechend. Wann immer es in der Schule Streit gab, wenn jemand verletzt oder ausgeschlossen wurde oder sich aggressiv verhielt, mischte sich Carrie ein. Das brachte ihr die Anerkennung derer ein, denen sie beistand, doch sie verlor dadurch auch viele Freunde. Während ihrer gesamten Kindheit hatten die meisten anderen Kinder entweder Angst vor ihr oder konnten sie nicht ausstehen.
Letzten Endes, so musste sie sich eingestehen, ging es immer um Kontrolle.
»Und darum, dass man sie nicht verliert«, erklärte sie Leah in ihrem ersten Jahr an der Uni. Das war 1986, und sie studierten beide Fernsehjournalismus.
»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Leah. Sie lagen nebeneinander auf einer Böschung im Gras, blickten hinauf in den strahlend blauen Himmel und sonnten sich. Mehrere Tausend Meter über ihnen hinterließ ein Flugzeug einen Kondensstreifen. »Ich habe überhaupt keine Kontrolle über mein Leben, und es stört mich nicht im Geringsten.«
Carrie stützte sich auf einen Ellenbogen. »Wie kannst du so etwas sagen? Warum studierst du dann überhaupt?«
»Weil meine Eltern es so wollten.«
Carrie ließ sich wieder auf den Boden sinken. Das war etwas, das sie nicht verstand. Sie kannte Leah seit
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