Der fremde Sohn (German Edition)
sein Zimmer sehen. So etwas passierte ihm vielleicht in seinem ganzen Leben nie wieder. Ihm würde es schon genügen, wenn sie nur auf seinem Bett säßen, jeder an einem Ende. So früh in ihrer Freundschaft wollte er ohnehin nichts überstürzen. Er wollte sich Zeit lassen und sie in Ruhe kennenlernen.
Aber seine Mutter … Wenn Dayna und sie sich begegneten, wäre nichts mehr wie zuvor, denn dann wäre er in ihren Augen plötzlich ein anderer. So unglaublich spannend es auf den ersten Blick auch erschien, eine Mutter zu haben, deren Show allwöchentlich ein Millionenpublikum in ihren Bann schlug – über kurz oder lang würde ihre Berühmtheit doch zwischen Dayna und ihm stehen.
Ihm blieb nur ein Ausweg: die Wohnung seines Vaters. In das Haus seiner Mutter konnte er sie unmöglich mitnehmen, denn selbst wenn sie nicht zu Hause war, würde der Anblick ihres Reichtums Dayna glatt umhauen.
»Wir müssen zu meinem Vater gehen.« Er überlegte einen Augenblick lang. »Meine Mutter wäre bestimmt sauer, wenn ich einfach jemanden mitbringe.«
Sie überquerten die Straße und stellten sich an die Bushaltestelle. Max zog sein iPhone aus der Tasche und klickte sich durch ein paar SMS . Bin bis Sonntag auf einer Tagung. Dad . Sie hatten die Wohnung also für sich allein. Max überlegte, ob er sich sicherheitshalber die Zähne putzen sollte, wenn sie dort waren. Aber die Wände der kleinen Wohnung waren so dünn, dass Dayna es bestimmt mitbekommen würde. Max hoffte, dass dort irgendwo noch ein paar Kaugummis oder Pfefferminzbonbons herumlagen.
Weil der Bus überfüllt war, mussten sie stehen. Es gefiel Max, dass Dayna mehrmals gegen ihn geschubst wurde, auch wenn sie selbst ein finsteres Gesicht machte und leise über den Mann schimpfte, der immer wieder gegen sie stieß. In der Nähe der Siedlung, wo Max’ Vater wohnte, stiegen sie aus.
»Mach dich auf was gefasst«, sagte Max und spannte unwillkürlich die Muskeln an, als sie von der Hauptstraße mit ihren Secondhandläden, den Lebensmittelgeschäften, den Friseursalons und diversen Imbissbuden in die farblose Welt der Westmount-Siedlung einbogen.
»Wieso?« Dayna wirkte völlig unbeschwert. Max wusste, dass sie in einer ähnlichen Umgebung aufgewachsen war – Lichtjahre entfernt von seinem Leben in dem privaten Internat.
»Hier kann’s manchmal ein bisschen heftig zugehen.« Instinktiv senkte Max den Kopf und zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch.
»Was meinst du damit?«, erkundigte sich Dayna.
Ihr Lachen ärgerte Max. »Na ja, manchmal passieren eben Sachen.« Er beschleunigte den Schritt, als sie durch den Betontunnel gingen, der mitten in die Wohnsiedlung führte. Fünfstöckige Blocks mit insgesamt fast zweitausend Wohnungen ragten hier, am westlichen Rand von Harlesden, in den Himmel. Die Einwohner nannten es den Knast, und Max fand das ganz passend.
»Was für Sachen?« Dayna zog die letzte Tüte mit Süßigkeiten aus der Tasche. »Willst du auch eins?«
Max schüttelte den Kopf. »Ach, vergiss es.« Er wollte sie nicht erschrecken, indem er ihr von der Gruppenvergewaltigung vor einigen Wochen erzählte, von den Einbrüchen – es gab kaum eine Wohnung, in die nicht schon einmal eingebrochen worden war – oder den illegalen Autorennen samstagabends mit gestohlenen Wagen, die nachher in Brand gesteckt wurden und noch am nächsten Morgen nach verbranntem Gummi stinkend vor sich hin schwelten.
»Überall passiert irgendwas. Mein Viertel ist auch nicht gerade die feinste Adresse.«
Max hörte nicht mehr zu. Ein Stück entfernt am Eingang zu einem Treppenhaus lungerte eine Gruppe Jungs herum. Vielleicht war auch ein Mädchen dabei, das konnte er nicht erkennen. Er überlegte, ob sie ausweichen sollten, doch man hatte sie schon entdeckt.
»He, da is ja der dürre Stinker.«
Dayna holte schon Luft, um etwas zu erwidern, doch Max kniff sie leicht in den Arm.
»Sag nichts. Wir müssen die Treppe da hoch. Schau einfach auf den Boden.«
»Den Teufel werd’ ich tun.« Die Typen versperrten den Eingang. In ihrem Schlupfwinkel zwischen den Betonwänden stank es nach Urin, Marihuana und Schweiß. In einer Ecke lag ein Hundehaufen. Mit einem »’tschuldigung« wollte sich Dayna an ihnen vorbeidrücken, doch einer der Jugendlichen streckte die Arme aus. Sie trugen leuchtend blaugrüne Tattoos vom Handgelenk bis zur Schulter – wilde Schnörkel des Hasses und der Wut. »Können wir mal vorbei?«
»Ist schon gut«, sagte Max. »Dann
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