Der fremde Sohn (German Edition)
Er selbst nahm ihnen gegenüber im Sessel Platz.
»Meine Leute arbeiten rund um die Uhr an dem Fall, und ich hoffe, wir finden den Mörder Ihres Sohnes bald, Herr Professor. Ich will mir gar nicht vorstellen, was Sie und Ihre geschiedene Frau jetzt durchmachen.«
Carrie. Er war im Krankenhaus nicht wieder zu ihr gegangen, weil er sich nicht eingestehen wollte, was ihrer beider Anwesenheit dort in Wahrheit bedeutete: dass sie als Eltern versagt hatten. Was sie jetzt wohl gerade tat? Vielleicht ging es ihr so wie ihm, und ihr Körper wollte ihr kaum gehorchen, das Atmen fiel ihr schwer, ihre Augen brannten vom Weinen, und das Herz in ihrer Brust schlug nur noch widerwillig. Er empfand das überwältigende Bedürfnis, sie in den Armen zu halten wie an dem Tag, als sie Max das Leben geschenkt hatte. Niemals hatte er sich jemandem so nahe gefühlt wie seinem neugeborenen Sohn und seiner schönen Frau.
»Nein, das können Sie auch nicht«, erwiderte Brody.
Er nahm sich vor, sie anzurufen, sobald die Polizisten gegangen waren. Sie sollten jetzt zusammen sein, trotz allem, was geschehen war. Das alles zählte jetzt nicht.
»Ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
Brody nickte. Ihm dröhnte der Schädel.
»Wissen Sie, ob Max Feinde hatte? Die Frage mag Ihnen vielleicht überflüssig erscheinen, aber falls jemand es auf ihn abgesehen hatte, müssen wir mit demjenigen reden.«
Wieder nickte Brody. »Da waren drei Jungs an seiner Schule, die ihm das Leben schwergemacht haben.« Brody atmete tief durch und dachte daran, wie er mit seinem Sohn über dieses Thema gestritten hatte. »Es ist eine Ironie des Schicksals, dass er aus dem gleichen Grund von seiner früheren Schule abgegangen ist.« Noch immer erinnerte er sich Wort für Wort an die letzte SMS auf Max’ Handy: … so ein Stück Scheiße wie dich wollen wir hier nicht haben … Wir machen dir Feuer unterm Arsch …
»Was denken Sie, warum wurde er schikaniert?«
Brody hätte ihnen stundenlang erklären können, warum sein Sohn anders gewesen war als andere Teenager, mit seinem verschrobenen Vater und seiner berühmten Mutter, und dass er nie richtig dazugehört hatte. Dass seine Vorliebe für Mathe und die Tatsache, dass er bereits mit acht Jahren sechs verschiedene Programmiersprachen beherrschte, ihm die Verachtung seiner Altersgenossen eingetragen hatten. Wie er sich durch seine Leidenschaft für Preisausschreiben – nicht nur hin und wieder, sondern jede Woche dutzendweise – immer weiter von den Gleichaltrigen entfernt hatte, die seine Freunde hätten sein sollen.
»Max war anders. Er war still und nachdenklich.« Brody hörte das Kratzen eines Stifts auf Papier.
»Warum sollte das jemanden stören?« Es war die Stimme der Frau.
»Kids hacken auf jedem herum, der anders ist. Ich nehme an, dann kommen sie sich selbst toller vor.« Plötzlich stieg eine Welle der Übelkeit in Brody auf. Die Wahrheit war kaum zu ertragen: Er war nicht da gewesen, als sein Sohn ihn dringend gebraucht hätte. Mit zitternden Händen umklammerte er die Armlehnen des Sessels.
»Können Sie mir Namen nennen?«, fragte Masters.
»Nein, aber ich kann Ihnen eine Beschreibung und eine Handynummer geben.«
»Eine Beschreibung?«, wiederholte die Polizistin erstaunt, der Brodys Behinderung nicht entgangen war. »Wie das?«
»Als ich letztes Jahr davon erfuhr, dass Max von einigen Jungen gemobbt wurde, spürte ich sie auf. Es war ganz einfach. Fiona, meine Assistentin, war dabei und beschrieb mir, wie sie aussahen. Vielleicht hat es ja auch gar nichts auf sich …« Er verstummte, wütend auf sich selbst, weil er der Sache nicht energischer nachgegangen war.
»Die Beschreibungen, Herr Professor«, erinnerte ihn die Frau.
Brody rasselte aus dem Gedächtnis die Handynummer herunter und wiederholte wörtlich, was Fiona in dem Lokal berichtet hatte. Das war wenigstens ein Anfang, auch wenn es zu spät war.
Die beiden Detectives wechselten leise ein paar Worte, die von dem Geschrei der Jugendlichen draußen übertönt wurden. Brody verstand nur das passt und Westmount.
Westmount? Hatte Max hier in der Siedlung Ärger gehabt?
»Hatte Ihr Sohn eine Freundin, Herr Professor?«, fragte Masters.
»Er hat es immer abgestritten«, antwortete Brody und dachte daran, wie Max herumgedruckst hatte. Das war so gut wie ein Eingeständnis gewesen. »Aber ich glaube, da gab es ein Mädchen, das er mochte.« Er erinnerte sich an den Duft von billigem Parfum.
»Und einen besten Freund?
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