Der fremde Sohn (German Edition)
polierten Stiefeln ihres Vaters.
Charles Ernest Kent war mit sechzehn in die Armee eingetreten. Mit zweiundzwanzig hatte er während eines Urlaubs Carries Mutter Rita kennengelernt, und die beiden hatten fast sofort geheiratet. Rita gab ihren Beruf als Krankenschwester auf und zog mit ihrem Mann von einem Stützpunkt zum nächsten. Sie verfolgte seinen Aufstieg auf der militärischen Karriereleiter mit Staunen und Bewunderung und beklagte sich nie darüber, dass sie ein so unstetes, einsames Leben führte, kein eigenes Haus besaß, keine Freundschaften aufbauen konnte und ihr Kind wie eine alleinstehende Frau aufziehen musste.
In Carries frühesten Erinnerungen gab es nur ihre Mutter, die sanfte braune Augen hatte, in der Küche immer eine rotgepunktete Schürze trug und stets ihren Ehering sorgsam auf eine Untertasse legte, bevor sie sich an die Hausarbeit machte. »Damit sich die Liebe nicht abnutzt«, pflegte sie immer zu sagen. Mit einem Seufzer der Erleichterung steckte sie ihn anschließend wieder an den Finger. »Bald ist Daddy wieder zu Hause. Noch einhundertdreiundzwanzigmal schlafen.«
Als Carrie alt genug war, zählte auch sie die Nächte. Während ihre Mutter es kaum erwarten konnte, dass Charles Kent wieder neben ihr im Bett lag, heimgekehrt aus fernen Ländern, an seinem Körper noch den Geruch nach Sonne, Wüste und ölverschmierten Panzern, wartete Carrie aus anderen Gründen angespannt auf die Rückkehr ihres Vaters. Dabei malte sie sich aus, wie es wäre, einfach nicht mehr da zu sein.
Schon Tage vor seiner Ankunft waren die Puppen, Bücher und Puzzles, die sonst im ganzen Bungalow verstreut lagen, ordentlich weggeräumt. Es kam ihr fast so vor, als könne ihr Vater die Unordnung aus der Ferne riechen. Wenn er wieder kam, war Schluss mit Schwatzen, Freunden und Fernsehen, und Körperkontakt jeglicher Art – ob eine Umarmung, ein Händedruck oder auch nur eine beiläufige Berührung am Arm – kam nicht mehr in Frage. Major Charles Kent war ein Mann, der sein Leben nach eigenen strengen Regeln lebte. Das Grundprinzip war einfach: Er musste immer alles unter Kontrolle haben.
»Er hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass er mich nicht gewollt hatte. Er hasste mich geradezu.«
»Was?« Leah bereitete gerade den Salat zu. Die Wohnungstür hatte sie abgeschlossen. Wie sollte sie den Jungs von nebenan jemals wieder unter die Augen treten? Vielleicht hatten die ja auch kaum Geld fürs Essen. Es hätte ihr nichts ausgemacht, mit ihnen zu teilen.
Carrie stieß die Messerspitze tief ins Hühnerfleisch und verfehlte dabei um Haaresbreite ihren Finger. Stirnrunzelnd sah sie Leah an und schüttelte den Kopf. »Ach, nichts«, sagte sie und gab das mit Knoblauch und Pfeffer gewürzte Fleisch in die Bratpfanne.
Zum Teufel mit ihm, dachte sie, während die Fleischstücke weiß wurden und das Knoblaucharoma ihr in die Nase stieg. Bei der Aussicht auf eine anständige Mahlzeit lief ihr das Wasser im Mund zusammen.
Herbst 2008
M ax sah seine Chancen auf einen Kuss schwinden. Einmal, bei einer spannenden Szene, hatte er gehofft, Dayna würde sich ängstlich an ihn schmiegen, doch sie beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte: »War ja klar, dass das passiert.« In diesem Augenblick hatte er fest damit gerechnet, sie werde ihm einen Kuss geben, und er war froh über die Dunkelheit. Das war ihm jetzt so peinlich, dass ihm der Schweiß ausbrach.
Eigentlich hätte er es sich denken können, dachte Max, als er nach der Vorstellung vor der Damentoilette wartete. Sie gehörte nicht zu den Mädchen, die vor Angst kreischten und sich hilfesuchend an ihren Begleiter klammerten. Und mit Küssen war sie wohl auch nicht besonders freigiebig. Ihm gefiel es, dass sie nicht so locker war wie die meisten Mädchen in der Schule, die wahrscheinlich schon eine Liste ihrer Eroberungen führten.
»Fertig«, sagte sie, als sie herauskam und sich die nassen Hände an ihrer Jeans abwischte. »Sollen wir jetzt zu dir gehen?«
Max erstarrte. Das war das Letzte, was er wollte. »Zu meiner Bude? Klar«, versuchte er auszuweichen.
»Nein, du Dummkopf. Zu dir nach Hause. Ich würde gern dein Zimmer sehen, und vielleicht kann ich ja auch deine Mutter kennenlernen.«
Was sollte er jetzt machen? Vielleicht interessierte sie sich ja tatsächlich für ihn. Auf jeden Fall war die Gelegenheit einfach zu günstig, als dass er sie sich hätte entgehen lassen können. Ein Mädchen – und noch dazu eins, das er wirklich mochte – wollte
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