Der fremde Sohn (German Edition)
schließlich ihre Tirade.
Er hörte, wie sich jemand auf das Sofa setzte.
»Wie konnte uns das bloß passieren?«
»Du meinst, das alles«, erwiderte Brody, und beiden war klar, dass er damit mehr meinte als die Schrecken dieses Tages.
»Ich weiß nicht, wie ich ohne ihn leben soll«, sagte Carrie.
Sie klang wie einer ihrer vom Schicksal geschlagenen Studiogäste. »Konntest du denn mit ihm leben?« Ihm war bewusst, wie aggressiv das klang, doch er konnte es sich nicht verkneifen.
»Brody –«
»Sei still!«, fuhr er Leah an, die sich einmischen wollte.
»Wir müssen uns gegenseitig unterstützen«, sagte Carrie.
»Ein bisschen spät, findest du nicht?«
»Bitte hört auf damit, beide …« Leah verstummte.
»Wir sind beide verantwortlich, Brody. Seit dem Augenblick, als Max gezeugt wurde, sind wir das, so weit wir uns auch voneinander entfernt haben mögen.« Carrie überraschte die beiden anderen mit ihrem klaren Urteilsvermögen.
Doch dann lachte Brody plötzlich. »Voneinander entfernt! Waren wir uns überhaupt jemals nah? Hast du in deiner egozentrischen Art nur ein einziges Mal darüber nachgedacht, in was für einer hoffnungslos kaputten Beziehung wir drei tatsächlich leben … gelebt haben?«
Es war zu viel für ihn. Er konnte nicht mehr ruhig sitzen bleiben. Brody sprang auf und lief unruhig im Zimmer auf und ab. Dabei wünschte er sich, er hätte eine Vase oder eine Nippesfigur gehabt, um sie an die Wand zu schmeißen. Doch so etwas besaß er nicht.
»Dies ist nicht der richtige Zeitpunkt zum Streiten. Wir müssen herausfinden, was passiert ist. Wer unserem Sohn das angetan hat.«
»Da hat sie recht«, kam Leah Brody zuvor, der gerade zu einer heftigen Entgegnung ansetzen wollte.
»Hat die Polizei schon mit dir gesprochen?«, fragte er stattdessen.
»Ja. Und mit dir?«
»Nur kurz. Mir scheint, sie haben noch nicht viele Anhaltspunkte.«
»Es gab einen Zeugen. Weißt du, wer es ist?«, fragte Carrie.
»Nein.« Brody überlegte.
»Ich muss unbedingt mit dem Betreffenden sprechen.«
Brody merkte, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen. »Meinst du nicht, die Polizei kümmert sich darum?« Er prallte gegen die Wand und verlor für einen Moment die Orientierung.
Carrie antwortete nicht sofort. Sie will nicht vor mir weinen, dachte Brody.
»Wir können uns doch nicht einfach zurücklehnen und abwarten«, sagte sie schließlich, nachdem sie sich gefasst hatte.
Trotz ihrer kläglichen Stimme – Brody stellte sich vor, wie sie klein und zart, mit rot verweinten Augen auf seiner Couch saß – hörte er einen kraftvollen Unterton, der an die alte Carrie Kent erinnerte. Er wusste, dass sie Beziehungen zur Kriminalpolizei hatte, und konnte es selbst nicht erwarten, etwas Neues zu erfahren. Wenn sie beide überhaupt noch etwas gemeinsam hatten, dann war es die Tatsache, dass sie schon von Berufs wegen nach Antworten suchten.
»Max hat ein paarmal ein Mädchen mit hergebracht.« Brody nahm nicht an, dass Carrie davon wusste.
»Wen denn? Und wann?«
»Es begann letzten Herbst. Er hat nicht viel über sie gesprochen.«
»Kennst du ihren Namen? Vielleicht weiß sie etwas.«
»Nein.« Brody hatte nicht nachgefragt. Dass ein Mädchen in seiner Wohnung gewesen war, hatte er überhaupt nur vermutet, weil es in seinem Schlafzimmer ein- oder zweimal nach Haarspray, Make-up und Waschmittel gerochen hatte. Er wollte, dass Max es ihm erzählte, wenn er selbst bereit dazu war.
»Ich muss noch mal zur Schule«, erklärte Carrie.
Brody wusste, dass es ihr bessergehen würde, wenn sie etwas unternahm. Nichtstun war für sie eine Qual. Er erinnerte sich, wie sie drei noch zusammen in ihrem geliebten Heim gelebt hatten, wo Max auf seinem Dreirad durch den Garten gekurvt war. Wann immer etwas in ihrem Leben schiefging, brachte Carrie es schnellstmöglich wieder in Ordnung. »Du reparierst sogar Sachen, die noch gar nicht kaputt sind«, hatte Brody des Öfteren gespöttelt.
»Kommst du mit?«, fragte sie jetzt.
»Willst du dir das noch mal antun, Carrie?«, fragte Leah zweifelnd, doch Brody antwortete, ohne zu zögern: »Ja, ich komme mit.«
Sie fanden den Mercedes noch unversehrt dort vor, wo sie ihn geparkt hatten. Leah fuhr, und Brody saß auf dem Beifahrersitz. Carrie hatte ihn bis zur Tür geführt und ihm mit dem Sicherheitsgurt geholfen. Es überraschte sie, wie leicht ihr das fiel, obwohl sie darin gar nicht geübt war. Kurz nach seiner Erblindung hatten sie sich getrennt.
»Sag
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