Der fremde Sohn (German Edition)
mir, wie ich fahren soll«, bat Leah, worauf Carrie sich stirnrunzelnd vorbeugte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden.
»Du musst in Richtung Bahnhof fahren. Kurz davor biegst du scharf nach rechts ab.« Brody sprach in entschiedenem Ton, als wäre er den Weg schon mehrmals selbst gefahren. Fünf Minuten später standen sie auf dem Parkplatz der Schule.
»Ich weiß gar nicht, ob ich den Anblick noch mal ertragen kann … Ich war schon einmal hier. Es war grauenvoll.« Carrie vergrub das Gesicht in den Händen und ließ sich einen Moment lang von Leah trösten.
Wie oft hatten sie und ihr Fernsehteam Leute an einen Ort begleitet, wo ein Angehöriger einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, sei es durch einen Verkehrsunfall, eine Kneipenschlägerei mit tragischem Ausgang, einen Überfall, eine Vergewaltigung. Der Kameramann wusste genau, was er zu tun hatte: zuerst eine Totale der Szene mit den Blumensträußen, Karten und Teddybären und dann eine Nahaufnahme, um die unmittelbare Reaktion der Angehörigen einzufangen. Das erste Entsetzen, ihre unverhohlenen Gefühle, die Essenz ihres Leidens. Doch nichts, dachte Carrie, war so schrecklich anzusehen gewesen wie das Blut ihres Sohnes auf dem Boden. Um den Anblick zu ertragen, hatte sie eine innere Distanz geschaffen und sich eingeredet, dass sie nur Aufnahmen für ihre Show mache und ihr Sohn in Wahrheit nicht heute Morgen gestorben sei. Heute Morgen …
»Entschuldigen Sie, aber hier dürfen Sie nicht weitergehen. Es hat einen Unfall gegeben.« Am Tor vor dem Parkplatz versperrten ihnen zwei Polizisten den Weg.
»Es war mein Sohn. Der Unfall war mein Sohn«, flüsterte Carrie. Sie spürte, dass Brody, der zwischen ihr und Leah ging, sich nur notgedrungen von ihnen führen ließ. »Das ist sein Vater. Wir müssen mit dem Schulleiter sprechen«, fügte sie hinzu und schluckte.
Die Polizisten wechselten einen Blick. Anscheinend dämmerte ihnen, wer sie war. Als sei die berühmte Carrie Kent bereits untrennbar mit dieser Tragödie verbunden. Dann nickten sie. »Kommen Sie.« Einer der Beamten ging voraus. Er geleitete sie bis zu dem tristen Bau und führte sie dann zum Büro des Direktors.
Warum nur hatte Max das Internat verlassen, schoss es Carrie durch den Kopf.
Jack Rushen, Leiter der Milton-Park-Schule, war in ein Gespräch mit zwei Lehrern vertieft. Die Schule, normalerweise um diese Zeit leer und geschlossen, summte förmlich vor Betriebsamkeit. Die drei machten betroffene Gesichter, als die zitternde Carrie plötzlich vor ihnen stand. Offensichtlich wussten sie nicht, was sie sagen sollten.
»Wir sind Max’ Eltern und müssen mit Ihnen reden.«
»Selbstverständlich hätte ich mich noch bei Ihnen gemeldet, Mrs Kent, aber ich fand, dass Sie heute schon genug durchgemacht haben«, begann Rushen. Dann erhob er sich aus seinem Stuhl, kam hinter seinem Schreibtisch hervor und begrüßte sie mit einem schlaffen Händedruck. Er war offensichtlich ratlos.
Carrie verabscheute ihn auf Anhieb. War es nicht letztendlich seine Schuld, dass ihr Sohn tot war? Jemand musste doch Schuld haben. »Ich möchte wissen, was heute Morgen geschehen ist.« In ihrem überreizten Zustand sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus.
»Die Polizei arbeitet daran, Mrs Kent. Es ist wirklich eine Tragödie, aber bitte glauben Sie mir –«
»Ich sehe keinen Grund, warum ich Ihnen glauben sollte. Ich habe meinen Sohn in die Obhut Ihrer Schule gegeben, und jetzt ist er … ist er … tot.« Sie schluchzte.
»Nicht, Carrie.«
Brodys Stimme war seltsam beruhigend. Hatte er nicht damals, als sie beide noch ein Paar waren, auch stets diese Wirkung auf sie gehabt?
»Wir hätten gern gewusst, wer seine engsten Freunde waren. Damit wir sie zur Beerdigung einladen können.«
Auf Brodys Worte folgte Schweigen. Max’ Beerdigung .
Carrie warf ihm einen Blick zu und fragte sich, wie er so schnell auf diese Idee gekommen war. Der Schulleiter würde ebenso wenig wie die Polizei jetzt schon Einzelheiten über Zeugenaussagen preisgeben, sofern er überhaupt welche kannte. Rushen wusste genau, dass er mit der Weitergabe vertraulicher Informationen seinen Job aufs Spiel setzte – wenn er ihn nicht ohnehin schon los war. Aber vielleicht würde er Namen angeblicher Freunde nennen.
Einer der beiden anderen Männer ergriff das Wort. Carrie kannte ihn nicht, bemerkte jedoch, dass er mehr Autorität ausstrahlte als Rushen. »Max war ein beliebter Schüler. Es tut mir so leid.« Er hatte
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