Der fremde Sohn (German Edition)
Stimme.
»Dich retten.« Er strubbelte Lorrell durchs Haar. Dayna bemerkte, dass seine Hände zitterten.
»Nein … Ich meine, damit.« Ihr Blick ruhte auf seiner anderen Hand. »Das … das da.«
Wortlos steckte Max das Küchenmesser wieder in die Tasche.
Dann gingen sie zur Imbissbude und kauften sich etwas zu essen. Als sie draußen auf dem Mäuerchen saßen, fragte Dayna: »Hättest du es wirklich getan? Du weißt schon …« Sie tat, als wolle sie ihn mit dem Pommesgäbelchen erstechen, hörte jedoch sofort auf, als Lorrell hochschaute.
Max’ Gesicht wurde ernst. Als die weichen Härchen auf seiner Oberlippe in der Sonne schimmerten, bemerkte sie, dass er sich nicht rasiert hatte. Er blickte ihr gerade in die Augen und sagte: »Ja. Für dich schon.«
Daynas Magen machte einen Hüpfer. Das fühlte sich noch besser an als ein Kuss.
Fiona hatte schon viel über Brody nachgedacht. Dieser Mann war ihr einfach ein Rätsel. Natürlich war sie vielen Männern begegnet, die nicht in der Lage waren, eine Beziehung einzugehen. Die Ursache lag meist auf der Hand: Einer war aufgrund seiner schlimmen Kindheit bindungsunfähig, ein zweiter hatte bereits drei Ehen hinter sich und würde sich nie mehr dauerhaft binden, wieder ein anderer konnte sich noch nicht eingestehen, dass er schwul war.
Doch in Brodys Fall war sie ratlos. Er hatte eine Mauer um sich errichtet und gewährte nicht den kleinsten Einblick in sein Gefühlsleben.
Während sie an diesem Morgen wie gewohnt ihr Frühstücksbrot verzehrte, saß Brody in seinem Büro über die Tastatur gebeugt, nur durch eine Glaswand von ihr getrennt.
»Kneif die Augen fest zu und glaub daran, dass der Rest der Welt dich nicht sehen kann«, sagte sie leise.
»Das zweite Indiz«, rief ihr der Kollege vom Nebenschreibtisch zu.
»Wie bitte?«
»Selbstgespräche. Das zweite Indiz für Wahnsinn.«
»Und was ist das erste?«, fragte Fiona lachend. Pete heiterte sie immer auf.
»Für ihn zu arbeiten.« Pete grinste.
»Nach all den Jahren verstehe ich ihn noch immer nicht besser als am ersten Tag«, gestand Fiona. Ein Käsekrümel fiel auf ihre Hose. Sie hob ihn mit spitzen Fingern auf und wischte sich mit einer Serviette die Mayonnaise vom Mund ab. »Er spricht nie darüber, wie es passiert ist … Du weißt schon, wie er blind wurde.« Es fiel Fiona schwer, die Worte auszusprechen. Sowohl die Studenten als auch die Mitarbeiter hatten gelernt, diesbezüglich ihre Zunge zu hüten.
»Es heißt, es war ein Unfall«, sagte Pete.
»Das habe ich auch gehört«, erwiderte Fiona, ohne den Blick von ihrem Chef zu lösen. Da die Tür geschlossen war, arbeitete er offensichtlich an etwas Vertraulichem. Trotzdem würde er sie hereinlassen, aber erst nachdem sie angeklopft und sich zu erkennen gegeben hatte. Sie hatte kein Interesse daran, seine Arbeit auszuspionieren – sie wünschte nur, sie könnte durchschauen, was in ihm vorging.
Sie sah, wie Brody zum Telefon griff. Eine Sekunde später klingelte es bei ihr.
»Wir fahren weg«, verkündete er.
»Wohin?«
»Aufs Land.«
Verwirrt sah Fiona zu, wie Brody seinen Laptop zuklappte und den blauen Wollmantel anzog. Er wusste genau, wo sich alles befand. Dann schlang er seinen karierten Schal um den Hals, kam heraus und blieb neben Fionas Schreibtisch stehen. Es war kalt für Ende Oktober, doch Fiona hatte morgens nur einen leichten Regenmantel übergezogen. Den zog sie jetzt an und nahm ihre Handtasche und die Schlüssel. »Bis später, Pete. Ich unternehme mal wieder eine Fahrt ins Blaue«, sagte sie und verzog das Gesicht, doch dann stellte sie fest, dass Pete gar nicht mehr da war. »Ich drehe wirklich langsam durch«, bemerkte sie, während sie ihren Chef am Arm fasste und ihn zum Aufzug führte.
Die Fahrt nach Cambridgeshire war angenehm. Fiona fühlte sich behaglich, wie sie da mit Brody im Auto saß und durch den Nieselregen fuhr – ein Gefühl, das sie genoss, dem sie aber zugleich mit einem gewissen Argwohn begegnete. Erst der heiße Kaffee, den sie auf Brodys Drängen hin an der Tankstelle gekauft hatte, holte sie aus ihrer Grübelei heraus und lenkte sie von der Tatsache ab, dass der Mann, den sie schon so lange kannte, sie niemals wirklich wahrnehmen würde. In über zehn Jahren hatte er bestimmt kaum einen Gedanken an sie verschwendet.
»Willst du mir immer noch nicht verraten, wo wir hinfahren?« Fiona bremste, als vor ihnen rote Rücklichter aufblinkten. Er hatte ihr lediglich eine Anschrift für das Navi
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