Der fremde Sohn (German Edition)
Blitzartig spulte sich ihre gesamte Karriere vor ihrem inneren Auge ab, gefolgt von einer Leere, so abgrundtief, dass sie sie kaum ertragen konnte. Andere Leute, dachte sie, noch immer nicht bereit zu akzeptieren, dass sie selbst seit gestern Morgen eine von ihnen war.
Brody war sicher, dass es sich um das Mädchen handelte, das Max mehrmals mit in die Wohnung gebracht hatte. Aus den Duftspuren, die sie in seinem Schlafzimmer hinterlassen hatte, hatte er sich bereits ein Bild von ihr gemacht – aus dem schwachen Geruch von Haarspray, einem Hauch von Leder, der wohl von einer Jacke oder schweren Stiefeln stammte, und dem unverkennbaren Aroma jugendlicher Wollust. Brody konnte es eher spüren als tatsächlich riechen. Es hatte die Luft in seinem Schlafzimmer in Schwingungen versetzt und ihn an die Zeit erinnert, als er in Max’ Alter war. Plötzlich dachte er mit Wehmut daran zurück.
»Hat er jemals von seiner früheren Schule gesprochen?«, fragte Brody.
»Es hat ihm dort nicht gefallen«, antwortete Dayna. »Das hatten wir beide gemeinsam. Wir sind nicht gern zur Schule gegangen.«
Brody hörte ein leises Zischen, als sie ihre Dose öffnete. Sie trank einen Schluck und stellte sie wieder auf den Tisch.
»Seid ihr … miteinander gegangen?«, erkundigte sich Carrie. Diese Frage hätte Brody ihr beantworten können.
»Nein. Ja. Ich weiß nicht. Spielt doch jetzt auch keine Rolle mehr, oder?« Ihr Schnauben schien auszudrücken, dass es ihr gleichgültig war, welche Schicksalsschläge sie noch erwarteten. Nichts konnte schlimmer sein als das, was sie gerade durchmachte.
»Er hat ein paarmal von dir gesprochen.« Welche Farbe die Augen des Mädchens auch haben mochten, Brody war sicher, dass sie jetzt riesengroß wurden. »Er hatte dich gern«, fügte er hinzu.
»Ja«, sagte sie nur, aber Brody nahm das verzweifelte Beben in ihrer Stimme wahr.
»Dayna, kannst du dir vorstellen, wer … wer das getan hat?« Carries Stimme dagegen drang schneidend durch die Geräuschkulisse des Cafés, in dem mittlerweile vier junge Mütter mit Kinderwagen und quengelnden Kleinkindern Platz genommen hatten.
»Wir sind hier nicht in deiner verdammten Show, Carrie.«
»Brody, bitte.« Und wieder legte sie die Hand auf seinen Arm. Er schüttelte sie ab. »Dayna, wenn du etwas weißt, musst du es sagen«, setzte sie hinzu.
»Keiner mochte uns«, erklärte sie nur, doch Brody konnte erahnen, wie viel Wut und Trauer sich hinter diesen wenigen Worten verbargen. Es traf ihn tief, in deutlichen Worten zu hören, dass sein eigener Sohn unbeliebt gewesen war.
Carrie dagegen begriff es gar nicht. »Warum? Was stimmte denn nicht mit dir oder mit Max?«, hakte sie nach.
Brody hörte, wie ihm gegenüber ein Stuhl über den Boden scharrte.
»Nein, warte …«, rief Carrie verzweifelt.
»Was mit uns nicht stimmte?«, kam Daynas Stimme von der Tür. »Was stimmt denn mit Ihnen nicht, dass Ihr eigener Sohn nicht ein einziges Mal erwähnt hat, wer seine Mutter ist?«
Dann war sie fort, und die beiden mussten sich einer Wahrheit stellen, für die sie nicht bereit waren.
Dayna ging wieder zurück zu dem Baum. Es gab keinen anderen Ort, wohin sie gehen konnte. Sie lehnte sich mit dem Rücken an den dünnen Stamm und ließ sich daran hinunterrutschen. Es war ihr egal, dass sie sich dabei die Jacke zerschrammte und so unsanft auf dem Po landete, dass die Erschütterung ihr durch die Wirbelsäule bis in den Kopf fuhr. Es war ein gutes Gefühl, körperlichen Schmerz hervorzurufen und damit den seelischen Schmerz wenigstens für kurze Zeit zu verdrängen.
Sie nahm die gleiche Haltung ein, in der die beiden Idioten sie gefunden hatten. Sie versuchten doch nur, sie in ihr krankes Leben hineinzuziehen, damit sie sie besser über Max aushorchen konnten. Na, sie würde jedenfalls nichts verraten. Diese blöde Kuh. Was hatte sie Max angetan, dass er sie vor ihr versteckte? Diese verdammte saublöde Carrie Kent.
Dayna hätte gern geweint, doch sie konnte nicht. Also zog sie eine Zigarette aus der Tasche. Es war ihre letzte. Sie steckte sie an und zog gierig daran, um nichts zu vergeuden. Ihre Lunge brannte – nicht von dem beißenden Rauch, sondern weil sie so dicht bei ihrem wunden Herzen lag.
»He, fang!«, ertönte eine Stimme von der anderen Seite der struppigen Grasfläche, die die einzelnen Häuserreihen mit Sozialwohnungen voneinander trennte.
Instinktiv wich Dayna zur Seite aus, gerade noch rechtzeitig, bevor die Hundescheiße nur
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