Der freundliche Mr Crippen | Roman
die zwischen Kanada und Europa hin- und herfährt, die Canadian Pacific Line. Wir könnten eines ihrer Schiffe nehmen und all unsere Probleme hinter uns lassen.«
Er überlegte. Eine gar so schlechte Idee war es nicht. Die Vorstellung, England zu verlassen, gefiel ihm durchaus, auch wenn er selbst noch nicht ernsthaft darüber nachgedacht hatte. »Aber warum Antwerpen?«, fragte er. »Warum nicht in Liverpool ein Schiff nehmen?«
»Weil es ein größeres Abenteuer ist«, log sie. Für den Fall, dass der Inspector ihnen nachspürte, wollte sie kein englisches Schiff. »Und wir könnten erst einen kleinen Urlaub machen. Es war so wunderschön in Paris, und ich wollte immer schon mehr von Europa sehen. Wir könnten noch einmal nach Paris fahren und eine kleine Rundreise machen, bevor wir nach Kanada in See stechen. In eine neue Welt. Ein neues gemeinsames Leben. O bitte, Hawley, sag, dass wir es tun. Wir müssen das Haus sowieso verlassen.«
Sie hielt seine Hände und sah ihn flehentlich an, und er begriff, dass er ihr niemals etwas würde abschlagen können. Er liebte sie viel zu sehr.
»Also gut«, sagte er. »Lass es uns so machen.«
19. JULI
Sie reisten drei Wochen lang durch Europa, bis sie endlich Antwerpen erreichten. Eine Woche verbrachten sie in Prag auf einem umgebauten Schiff auf der Moldau, einem »Botel«, wie es genannt wurde. Es war die erste Stadt, in der sie sich wirklich allein und ungestört fühlten. Die Luft war frisch, und sie machten lange Spaziergänge über die Karlsbrücke und durch die Altstadt, hielten sich untergehakt und hatten rote Wangen und Nasen von der Sommersonne. Nachmittags saßen sie am Fenster eines Cafés und blickten auf den großen Platz. Ethel sah hinauf zur astronomischen Uhr und ihren dramatischen Stundenwechseln. Der Tod konsultierte sein Stundenglas und zog langsam an der Glockenschnur, während hinten Christus erschien. Der Hahn krähte, die Stunde wechselte, und die Menge unten zerstreute sich.
Anschließend fuhr sie nach Antwerpen, wo sie noch ein paar Tage warten mussten, bis die
Montrose
in See stach. Am Nachmittag des 17 . Juli spazierte Ethel allein durch die Straßen und setzte sich in ein kleines Café, um einen Tee zu trinken und ein Sandwich zu essen. Sie hatte im Hotel eine schon etwas ältere Ausgabe der Londoner
Times
gefunden, die sie neben sich auf den Tisch legte. Wie Hawley war auch sie nicht der Typ Mensch, der regelmäßig die Nachrichten verfolgte, aber sie hatte feststellen müssen, dass sie als unbegleitete Frau in Europa oft belästigt wurde, wenn sie nicht von vornherein klarmachte, dass sie an Annäherungsversuchen nicht interessiert war. Ein Buch oder eine Zeitung boten eine gute Möglichkeit, das zu erreichen.
Schließlich war das Sandwich verspeist, und sie schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein, breitete die Zeitung vor sich aus, überflog die Schlagzeilen und blätterte um. Als ihr Blick auf die Seite drei fiel, bekam sie einen Moment lang keine Luft. Ganz oben auf der Seite prangten Bilder von Hawley und Inspector Walter Dew. Sie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich, und setzte vorsichtig die Tasse ab, die sie vor Schreck beinahe hätte fallen lassen. Die Schlagzeile unter den Fotos lautete: »Leiche in Londoner Keller gefunden«. Es war vorbei. Sie waren ihr auf die Schliche gekommen. Voller Angst davor, was als Nächstes kommen würde, las sie den Artikel von Anfang bis Ende.
Ein widerlicher Mord wurde im Haus eines angesehenen Londoner Arztes aufgedeckt. Am späten Nachmittag des 22 . Juni betrat Inspector Walter Dew von Scotland Yard das Haus Nr. 39 am Hilldrop Crescent in Camden, das Heim eines gewissen Dr. Hawley Harvey Crippen, um besagten Mann zum Verschwinden seiner Frau Cora zu befragen, die einigen als der beliebte Bühnenstar Bella Elmore bekannt ist. Mrs Crippen war seit einigen Monaten verschwunden, sollte aber nach Amerika gereist sein, um dort einen kranken Verwandten zu pflegen. Weil sie wegen Mrs Crippens fortdauernder Abwesenheit Verdacht schöpfte, alarmierte Mrs Louise Smythson, eine enge Freundin von Mrs Crippen, Scotland Yard, wo sogleich eine Untersuchung eingeleitet wurde.
Als er das Haus Dr. Crippens betrat, schloss Inspector Dew schnell, dass weder der Hausherr selbst noch seine Lebensgefährtin, eine gewisse Ethel LeNeve, anwesend waren. Eine kurze Durchsuchung der Räumlichkeiten führte ihn in den Keller, wo er eine äußerst grausige Entdeckung machte. Unter den Steinplatten des
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