Der Friedhofswächter
langsam angehen, Mädchen. Ganz langsam — okay?«
»Schon gut, Bill.«
Ich gab ihr eine gewisse Bedenkzeit und erkundigte mich noch einmal bei ihr, ob sie einverstanden wäre. »Bleibt mir etwas anderes übrig?«
»Wohl kaum.«
»Laßt uns zu Johnny gehen, aber ich spsreche zunächst mit ihm allein.«
»Bitte.«
Sheila ging vor. Bill und ich warteten noch für die Dauer einer Zigarettenlänge. Dabei beobachteten wir Nadine, die auf den Steinen der Terrasse lag und sich anscheinend recht wohl fühlte. Manchmal streckte sie sich, räkelte sich auch, drehte den Kopf und schaute uns an. Es waren keine leeren Augenhöhlen, fürwahr nicht, aber der menschliche Blick, der die Wölfin eben so abgehoben hatte, fehlte bei ihr.
»Was hat sie mit einem Friedhofswächter zu tun?« flüsterte Bill und schüttelte den Kopf. »Ich begreife es einfach nicht. Du hast mir die Geschichte erzählt oder die Legende. Ist Nadine denn ein Friedhofswächter?«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Ich ja auch nicht. Und trotzdem gibt es einen Zusammenhang.«
»Laß mich noch einmal auf die Sage zurückkommen, Bill. Sie hat sich besonders in den westeuropäischen Ländern hervorgetan. Wenn ich mich allerdings recht erinnere und diese Legenden richtig zu deuten weiß, gab es diese Friedhofswächter mehr in den einsamen Gegenden, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Ungefähr. Keine Großstädte also.«
»Nein, auf dem Land.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Das ist ganz einfach. Ich glaube nicht, daß Nadine bei ihren Ausflügen unbedingt einen Friedhof besucht haben muß. Sie hat sich eben nur einen ruhigen Ort ausgesucht, um Kontakt zu bekommen. Das ist alles.«
»Hoffentlich hast du recht.«
Ich bückte mich und streichelte die Wölfin. Sie ließ es sich gefallen und traf überhaupt keine Anstalten, sich dagegen zu wehren oder sich zur Seite zu bewegen. Mit fünf Fingern glitt ich auch über ihren Bauch, das Fell stellte sich dort hoch, ich kraulte sie, und die Wölfin drehte sich sogar auf den Rücken.
Bill schüttelte den Kopf. »Es ist kaum zu fassen. Wenn ich es nicht wüßte, hätte ich keinen Unterschied zu früher feststellen können.«
»Kommt ihr?«
Sheila hatte von der Terrassentür aus gerufen. Sie stützte sich mit einer Hand am Rahmen ab und winkte mit der anderen.
Bill war als erster bei ihr. Ich hörte ihn noch fragen. »Ist mit Johnny alles okay?«
»Man kann es so sehen. Zumindest schläft er.«
»Leider können wir nicht feststellen, ob er auch träumt«, bemerkte ich und schob mich an Sheila vorbei in das Wohnzimmer. Bevor Bill die Tür schloß, schaute er noch einmal zurück. Die Wölfin befand sich auch weiterhin auf der Terrasse. Allerdings lag sie nicht mehr, sondern hatte sich hingestellt und schaute zu uns herüber. Wir wandten uns ab. Es war besser, wenn Nadine vor dem Haus blieb, denn in ihrem Zustand konnte sie unberechenbar sein.
Wir bewegten uns auf Zehenspitzen auf das Zimmer des Jungen zu, dessen Tür nicht geschlossen war. Durch den Spalt drangen Johnnys ruhige, tiefe Atemzüge. Sheila legte noch einmal einen Finger auf ihre Lippen und betrat als erste den Raum.
Sie hatte bereits drei Stühle geholt und sie im Halbkreis vor dem Bett aufgestellt. In der entfernten Ecke brannte das schwache Licht einer Lampe mit buntem Schirm. Die Stühle warfen Schatten auf den Boden, die sich bewegten, als wir sie zurechtrückten.
Die Conollys saßen links neben mir. Sheila hatte außen ihren Platz gefunden. »Willst du mit ihm sprechen?« fragte ich sie.
»Soll ich denn?«
»Es wäre vielleicht besser. Deine Stimme kennt er gut. Ihr Klang wird auch in sein Unterbewußtsein dringen, wenn du es richtig machst.«
»Ja, ich versuche es.«
Sheila beugte sich vor und schaute ihren Sohn an. Johnny lag halb auf dem Rücken und halb auf der Seite. Sein Gesicht zeigte einen entspannten Ausdruck. Ich hatte sogar den Eindruck, als würde er im Schlaf lächeln.
Ich sah Sheilas Hände, die sie vorstreckte und nach ihrem Sohn ausstreckte. Sie berührte seine kleine Hand und ließ ihre Finger darauf liegen, als sie ihn ansprach.
»Johnny, mein Kleiner, kannst du mich hören? Ich spreche zu dir. Ich, deine Mutter…«
Johnny rührte sich nicht. So einfach war es auch nicht. Wir mußten Geduld haben. Man konnte solche Dinge einfach nicht übers Knie brechen. Gut Ding braucht Weile.
Das merkten auch wir. Unsere Geduld wurde auf eine sehr harte Probe gestellt, aber Sheila zeigte sich als typische Mutter,
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