Der Friedhofswächter
die nie aufgab und es immer wieder versuchte.
Sie sprach mit Johnny, sie flüsterte, manchmal hob sie auch die Stimme an und wartete darauf, daß der Junge reagierte. Immer wenn er sich regte, zuckten wir zusammen und hofften.
Ich schlug Sheila vor, es einmal mit dem Namen Nadine zu versuchen.
»Meinst du?«
»Mach es.«
Sie kam auf die Wölfin zu sprechen. Jetzt hatte sie sich neben das Bett gekniet, die Arme neben Johnnys Kopf auf das Kissen gedrückt und blickte ihn direkt an.
Als Sheila den Namen der Wölfin zum viertenmal erwähnte, tat sich etwas. Johnny zuckte zusammen.
»Nadine…«
Das Wort hatte er gesagt. Es war nur flüsternd über seine Lippen gedrungen, aber wir hatten es vernommen.
»Kennst du Nadine?«
»Ja. Sie ist meine Freundin.«
»Das soll sie auch immer bleiben. Du hast oft von ihr geträumt, nicht wahr, mein Kleiner?«
»Das habe ich.«
»Habt ihr euch vielleicht im Traum unterhalten? Hast du sie gesehen? Ist sie dir erschienen?«
»Sie ist meine Freundin.«
Sheila atmete durch die Nase. »Das wissen wir, Johnny. Sie ist deine Freundin. Und wir freuen uns auch darüber. Aber kannst du dich jetzt mit ihr unterhalten?«
»Warum?«
»Ich möchte es so. Ich, deine Mutter. Ich will wissen, wo sich Nadine befindet. Du hast uns schon etwas von einem Grab und dem Friedhofswächter erzählt. Kannst du da noch einmal nachfragen? Bitte, Johnny. Tu es für uns.«
Der Junge lag mit halb geschlossenen Augen. Es war warm im Raum. Auch auf meiner Stirn klebte der Schweiß. Ich wischte ihn aber nicht weg, weil ich jede überflüssige Bewegung vermeiden wollte. Johnny sollte in seiner Konzentration nicht gestört werden.
»Was soll ich denn?« fragte er und bewegte beim Sprechen kaum die Lippen.
»Nimm Kontakt auf. Frage Nadine. Du kannst doch mit ihr sprechen. Du bist der einzige.«
Johnny lächelte plötzlich. Es zuckte kurz um seine Lippen. Wahrscheinlich kam er sich jetzt besonders stolz vor. »Ja«, sagte er, »das kann ich. Nadine ist ein Mensch. Ich habe sie gesehen. Sie ist nicht nur eine Wölfin.«
»Wie hast du sie gesehen, Kind?«
»Als Geist.«
Sheila erschauderte. Auch ich saß noch steifer da als sonst, während sich Bill leise räusperte. Klar, da wurden Erinnerungen wach, als es den Reporter und mich in die Urzeit verschlagen hatte, wo die Magie der Wölfe praktisch ihren Anfang genommen hatte. Damals hatte der Geist der Frau ebenfalls den Körper verlassen können und über ihm geschwebt. Wir hatten Nadine so gesehen, wie wir sie noch in Erinnerung gehabt hatten, als Mensch.
Jetzt mußte der Geist abermals ihren Körper verlassen haben und irgendwo umherirren. Johnny sollte ihn finden.
»Versuche es!« drängte Sheila mit flüsternder Stimme. »Bitte, Johnny, versuche sie zu finden und frage sie, was wir für sie tun können. Was du für sie tun kannst. Ihr seid doch dicke Freunde. Da muß einer dem anderen helfen, verstehst du?«
»Ja, Mummy.«
Der Junge lag entspannt im Bett. Ich schaute mir sein Gesicht an und sah auch, daß seine Augendeckel zuckten, als hätte ihm jemand etwas darauf gestreut.
Er bewegte seine Lippen. Wahrscheinlich sprach er auch, allerdings unhörbar für uns. Möglicherweise konnte man ihn in einer anderen Dimension vernehmen.
Wir ließen ihn in Ruhe. Nur unser Atem erfüllte den Raum. Auch draußen war es ruhig. Nur Johnny bewegte sich jetzt. Er stand unter einem gewissen Druck, seine Handflächen fuhren auf der Bettdecke hin und her. Er zwinkerte mit den Augen und fragte plötzlich und für uns alle überraschend. »Nadine?«
Jetzt hatte er Kontakt!
Wir beugten uns noch weiter vor. Nichts sollte uns entgehen. Aber Johnny tat uns den Gefallen nicht, indem er lautredete. Erstand mitder Wölfin oderderen Seele auf mentaler Ebene in Kontakt und führte ein für uns unhörbares Zwiegespräch.
So mußten wir warten, bis es beendet war. Es dauerte nicht lange. Nach etwa vier bis fünf Minuten änderte sich die Verhaltensweise des Jungen wieder.
Der Kontakt zu Nadines Geist war abgebrochen. Ein Zucken lief über seinen Körper, er drehte sich herum und blieb schließlich auf dem Rücken liegen.
»Ich glaube, das war's«, sagte Sheila.
Der Ansicht waren wir ebenfalls. »Und wie geht es jetzt weiter?« fragte Bill. »Er hat uns ja nichts gesagt.«
»Johnny wird es hoffentlich wiederholen können«, bemerkte ich und blickte Sheila dabei an. Sie verstand die Aufforderung und nickte mir leicht zu.
»Ich werde sehen, was sich machen läßt.«
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