Der Friseur und die Kanzlerin
mehr Passanten.»
«Nein. Es muss vor einem ganz bestimmten Haus sein. Ich will ununterbrochene Überwachung. Und die Calabria ist sehr gut, da gibt es viele offene Läden. Wegen der Krise ist diesen Sommer niemand in Urlaub gefahren.»
Das war gelogen, aber es kostete mich nicht allzu viel, ihn zu überreden, er glaubte einfach alles. Ich ließ ihn den Standortwechsel vorbereiten und nutzte die Zeit, an einem Stand einen Kaktus im Sonderangebot zu kaufen, um bei der Familie Lin nicht mit leeren Händen aufzutauchen.
Der Sonnenstrahlung trotzend, erwarteten mich der Großvater, der Vater, die Mutter und der kleine Quim vor dem Warenhauseingang und empfingen meine verschwitzte Erscheinung mit einer synchronen Verneigung, außer dem Großvater, den die Arthritis zur Dauerverneigung gekrümmt hatte. Ich antwortete mit einer so tiefen Verbeugung, dass ich mir mit dem Kaktus das Gesicht zerstach.
«Oh, Sie hätten sich keine Mühe machen sollen», sagte Señor Lin. «Hier haben wir Tausende Kakteen. Aus Plastik. Für nur € 0,99; mit Erdbeergeruch € 1,19. Aber treten Sie doch ein, machen Sie es sich gemütlich, und ergreifen Sie Besitz von unserem bescheidenen Heim. Das ehrwürdige Hähnchen ist gleich so weit und der Reis seit acht Uhr früh verklumpt.»
Ich ließ mich nicht zweimal bitten, und trotz der anfänglichen Probleme mit den Stäbchen, das die alarmierte Señora Lin löste, indem sie Gabel und Löffel holte, hätte auch der gründlichste Geier nach wenigen Minuten kein Fäserchen mehr vom blanken Skelett reißen können. Ich erging mich in so heftigen Lobreden, dass die Reiskörner wie aus einem Springbrunnen spritzten, und während seine Frau und sein Sohn die Papierservietten wieder zusammenfalteten und zum Verkauf in die entsprechenden Packungen zurücksteckten, sagte Señor Lin:
«Ich möchte ja nicht unbescheiden sein, aber ich denke es, und Ihr aufrichtiges Lob bestätigt es: Meine ehrwürdige Gattin kocht, in den Worten Ihrer Religion, wie ein Engel beziehungsweise wie der Teufel in der unseren. Es ist ein Jammer, dass sie es nicht professionell tun kann. Ich weiß, dass es sie glücklich machen würde – außer dass sie verbundene Füße hat, muss eine Frau sich mit dem Ausüben ihrer Fähigkeiten auf anderen Gebieten verwirklichen. Gar nicht zu reden vom Gewinn, der sich erzielen ließe.»
«Achten Sie nicht auf meinen bescheidenen Mann», brachte sich die Betroffene ins Gespräch ein. «Er übertreibt aus Liebe und auch aus großer Habgier.»
«Deng-tse!», antwortete er. «Das heute war noch gar nichts. Kosten Sie erst das Kalbfleisch in Austernsoße oder die lackierte Ente oder …»
«… Mamas Kokletten!», krähte der kleine Quim ganz begeistert und mit mustergültiger Anpassung ans Lokalkolorit.
«Ich hatte sogar daran gedacht», fuhr der unternehmungslustige Gatte fort, «das Geschäft auszubauen und ein paar Tische auf den Gehweg zu stellen, mit einer Pergola aus Plastikbambus und abends einigen batteriebetriebenen Lämpchen, und ein einfaches, billiges, nahrhaftes Menü zu servieren.»
«Mit Erlaubnis von General Tat», mischte sich der Großvater ein.
«Da kann ich Ihnen», sagte ich, während ich vom Tisch aufstand, «nur Glück wünschen bei Ihren Plänen. Jetzt muss ich leider Gottes wieder arbeiten gehen. Großer Damensalon duldet keinen Müßiggang. Wenn Sie sich die Haare schneiden und wenn Sie, Señora, sich blond färben oder eine Dauerwelle machen lassen möchten, um sich von anderen Frauen Ihres Volks zu unterscheiden, dann kommen Sie ungeniert auch ohne Voranmeldung. Ich werde Ihnen Rabatt gewähren.»
Unter wiederholten Verbeugungen ging ich in den Backofen zurück, wo mich lange Stunden der Tatenlosigkeit erwarteten, von denen ich einen Teil nutzbringend in eine Siesta investierte.
Aus der ich von schrecklicher Angst gepackt erwachte. Dazu trug, abgesehen von der Temperatur, der Feuchtigkeit, dem Lärm, dem Gestank aus dem Gully, den Mücken (Anopheles, Tiger und normale), den Wanzen, den Kakerlaken und anderem, noch unklassifiziertem Ungeziefer, das opulente Mahl bei, mit dessen Verdauung sich mein Organismus abplagte, dem die Zutaten ebenso fremd waren wie die Gewohnheit. Aber welches auch der Zunder für diese Angst gewesen sein mochte, ihr Hauptgrund war ein ganz anderer und erschien mir in großer Deutlichkeit: Romulus der Schöne befand sich in Gefahr, nur schnelles, zielsicheres Handeln meinerseits konnte einen fatalen Ausgang verhindern, und derzeit
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