Der fröhliche Frauenhasser: Dr. Siri ermittelt (German Edition)
endlich dämmerte es Siri, und er schüttelte seine geistige Trägheit ab wie eine Fliege einen Tropfen Farbe. Er entschuldigte sich und ging hinaus, einmal um die Pathologie herum zur Rückseite des Gebäudes. Dort gab es weiter nichts als ein leer stehendes Büro und eine Leiter. Siri trat durch die offene Tür, stellte sich mitten ins Zimmer und tanzte. Er tanzte einen Jig, eine Polka und einen Highland Fling und sang dazu irgendwelchen Unsinn, den er auf Reisen aufgeschnappt hatte. Und dann lachte er. Wäre in diesem Augenblick jemand vorbeigekommen, hätte er den Doktor vermutlich für einen Tattergreis im Säuferwahn gehalten, doch Siri hatte sich noch nie so nüchtern und lebendig gefühlt wie jetzt. Die Vorboten des Todes, die ihn seit einer Woche verfolgten, das Gefühl, dass das Ende beständig näher rückte, nichts von alledem hatte Siri gegolten. Nicht er würde sterben – sondern Rajid.
Von diesem ebenso schönen wie schrecklichen Gefühl beseelt ging er zurück in sein Büro und zwang sich, nicht zu lächeln.
»Ich hatte eine Vision«, verkündete er. »Rajid steckt in ernsten Schwierigkeiten.«
Civilai und Dtui wussten von Siris Techtelmechtel mit den Geistern, und Geung schien sich nicht weiter dafür zu interessieren. Insofern hielt sich die allgemeine Verwunderung in Grenzen.
»Wie ernst?«, fragte Civilai.
»Wenn wir ihn nicht bald finden, stirbt er.«
»Hat Ihre Vision Ihnen zufällig irgendetwas über den Schauplatz und die handelnden Personen verraten?«, wollte Dtui wissen.
Siri ließ die Träume und Halluzinationen der vergangenen Tage rasch Revue passieren und versuchte, sie durch Rajids Augen zu betrachten.
»Eine Schwangere«, sagte er.
»Dtui«, sagte Dtui.
»Nein, die Frau, von der ich spreche, ist hässlich und liegt vermutlich bereits seit Langem unter der Erde. Da muss es irgendeine Verbindung geben.« Er nahm den Karton und durchforstete den Inhalt. Kaum hatte er die Knochen berührt, kam ihm die Erleuchtung. »Meine Güte. Natürlich.«
»Was?«, fragten Dtui, Civilai und Geung im Chor.
»Die Stadtsäule: der Si-Muang-Tempel. Die Gründung Vientianes«, sagte Siri.
»Fünfzehn …?«, begann Civilai.
»Um fünfzehnhundertsechzig«, sagte Siri. »Hattest du nicht gesagt, die Tongefäße stammen aus dieser Zeit?«
»Höchstwahrscheinlich«, sagte Civilai. »Damals haben sie eine alte Khmer-Säule hierhergeschleppt und sie zum Grundstein des neuen Vientiane erklärt. Sie gruben ein tiefes Loch, versenkten sie darin und warfen Wertsachen, Tongefäße und Andenken hinein, die den Teilnehmern der Zeremonie etwas bedeuteten.«
»In der Schule haben wir das aber nicht durchgenommen«, sagte Dtui.
Siri spann den Faden weiter. »Bevor sie zwei Tonnen Stein in besagtem Loch versenken konnten, mussten sie die dort ansässigen Landgeister versöhnlich stimmen. Die Ältesten verlangten ein Opfer. Es war schon ziemlich spät am Tag und die Zahl der Freiwilligen recht überschaubar. Da plötzlich trat eine hochschwangere Frau vor, der großes Unrecht widerfahren war. ›Nehmt mich, nehmt mich!‹, rief sie und sprang in die Grube. Die Seile wurden gekappt, die Säule fiel hinein, und die schwangere Dame war um eine Dimension ärmer. Ich bin nicht gleich darauf gekommen, weil ich immer angenommen hatte, das geopferte Mädchen müsse eine gut gebaute, flachsblonde Schönheit gewesen sein. Die Visionen von der Frau, die ich in der letzten Woche hatte, waren dagegen von geradezu erschreckender Hässlichkeit. Ich frage mich, wie sie es überhaupt geschafft hat, schwanger zu werden.«
»Sie haben diese Visionen schon seit einer Woche?«, fragte Dtui.
»Und das sagst du uns erst jetzt?«, setzte Civilai hinzu.
»Ja, aber versteht ihr denn nicht? Ich habe die Geister nicht mit Rajid in Verbindung gebracht, ich dachte, es ginge … ach, bo ben byang . Es spielt keine Rolle, was ich dachte. Viel wichtiger ist doch, dass dort, wo sie einst die Säule begraben haben, heute der Si-Muang-Tempel steht, und ich habe das dumpfe Gefühl, dass Rajid sich dort befindet. Und dass seine Zeit so gut wie abgelaufen ist.«
11
DIE BLASE PLATZT
Civilais alter cremefarbener Citroën raste in Richtung Si Muang. Von der Mahosot-Klinik bis zum Tempel waren es zwar noch nicht einmal zwei Kilometer, aber sie hatten es so eilig, dass die Fahrt kein Ende zu nehmen schien. Civilai steuerte den Wagen geradewegs aufs Tempelgelände und hielt kaum einen halben Meter vor der Ordinationshalle, die über den
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