Der Fruehling des Commissario Ricciardi
Fahrzeug fuhr los. Rechtsanwalt und Amtsdiener sprangen jeder in Richtung einer der beiden Straßenseiten, um sich in Sicherheit zu bringen. Ricciardi dachte anEnrica, wie um Abschied zu nehmen, während er den Türgriff fest umklammerte.
Zwischen dem Polizeipräsidium und der Via Generale Orsini, wo die Serra di Arpaja wohnten, lag tatsächlich nicht viel mehr als ein Kilometer. Man musste bloß die neue Küstenstraße entlangfahren; auf der einen Seite befanden sich das Castel Nuovo und der Königspalast, auf der anderen die alten Gebäude des Marinearsenals, die bald niedergerissen werden würden, weil dort ein Park entstehen sollte. Neapel erinnerte Ricciardi immer mehr an eine Wohnung, die zwar ein hübsches Wohnzimmer zum Empfangen der Gäste besitzt, in der die restlichen Räume aber völlig vergammelt sind.
Am Ende der Straße, vor der breiten Linkskurve, die nach Santa Lucia führte, befand sich die riesige Baustelle des Vittoria-Tunnels: Eines der großen Prestigeprojekte des Regimes. Zwei Teile der Stadt sollten durch eine unterirdische Straße miteinander verbunden werden. Ein fünfhundert Meter langes Loch. Bei den Arbeiten dazu waren bereits fünf Menschen gestorben. Zwei davon, die Ricciardi noch sehen konnte, leuchteten in der dunklen Baugrube, sprachen von ihren Familien, bevor die Explosion sie in Stücke gerissen hatte.
Von solchen Unfällen erfuhr die Öffentlichkeit gemeinhin nichts. Nachdem man sie sorgfältig vertuscht hatte, erhielten die Familien besondere Beihilfen. Zumindest etwas, dachte Ricciardi, während er nach Halt suchte, um die Kurve auszubalancieren, die Maione ruckartig und mit zuviel Schwung genommen hatte. Ein mit Hausrat vollgepackter Karren, der von einem alten Maultier gezogen wurde, verlor einen Großteil seiner Ware und der Fuhrmann rief ihnen wild fluchend hinterher.
»Na was denn, wozu die ganze Aufregung? Auf dem Karren war doch eh nur Müll. Commissario, auf welcher Höhe ist das Haus?«
»Hausnummer vierundzwanzig, genau da vorne rechts, du kannst langsamer fahren.«
Maione legte auf der Stelle eine Vollbremsung hin, die den Wagen schlagartig auf dem Bürgersteig zum Stehen brachte. An genau derselben Stelle ging aber gerade ein strenges Kindermädchen in traditioneller Kleidung – langes weißes Kleid, farbiges Häubchen –, das einen monumentalen Kinderwagen aus Holz vor sich herschob.
»Sind Sie verrückt geworden? Sie hätten mich beinahe angefahren! Und wenn das Kind gestürzt wäre? Was hätte ich dann der Baronin gesagt? Passen Sie doch gefälligst auf!«
Maione versuchte, sie zu besänftigen.
»Verzeihen Sie, Signora, wir sind im Einsatz und ich hab’ Sie nicht gesehen. Wir hatten es eilig.«
Ricciardi blickte das Kind an, das von seinem Gesicht fasziniert zu sein schien.
»Wie heißt das Kind?«
»Giovanni, er ist fast zwei.«
Viel Glück, Giovanni, dachte Ricciardi. Keine schöne Welt, in die du da hineingeboren bist! Auch wenn es in diesem Viertel vielleicht anders aussehen mag.
Der kleine Junge lächelte. Seine Augen waren so grün wie die des Kommissars.
Der uniformierte Pförtner des Hauses kam Maione und Ricciardi mit martialischen Schritten entgegen. Er fragte sie nach ihren Namen und prüfte demonstrativ eine vonihm in der Hand gehaltene Liste. Der Brigadiere und der Kommissar sahen sich ungeduldig an.
»Commissario, sagen Sie’s unserm Herrn Admiral hier oder soll ich’s ihm sagen, dass wir von der Polizei sind und nicht auf Besuch? Sonst vergesse ich gleich meine guten Manieren und fege ihn zur Seite.«
Ricciardi legte seine Hand auf den Arm des Pförtners.
»Hören Sie, es genügt, wenn Sie uns anmelden. Wir werden erwartet.«
Als sie aus dem Fahrstuhl ausstiegen, war die Tür schon geöffnet worden und ein Dienstmädchen knickste vor ihnen.
»Bitte, treten Sie ein. Der Herr Professor wird sie gleich empfangen.«
Maione warf dem Kommissar einen fragenden Blick zu.
»Wollten wir nicht mit seiner Frau sprechen?«
Ricciardi zuckte mit den Schultern: Er hatte nicht gehofft, direkt zu der Signora vorzudringen, war allerdings entschlossen, nicht wieder zu gehen, bevor er seine Zeugin nicht vernommen hatte. Kurz darauf wurden sie in ein dunkles Arbeitszimmer geführt, dessen Wände mit alten Büchern tapeziert waren. Der Mann, der ihnen entgegenkam, strahlte Autorität aus.
»Bitte, die Herren, machen Sie es sich auf dem Sofa bequem; ich lassen Ihnen einen Tee servieren. Uns an den Schreibtisch zu setzen wird nicht nötig
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