Der Fruehling des Commissario Ricciardi
haben.«
Instinktiv sah Ricciardi durch die Glasscheibe den Jungen an, der dickköpfig immer weiter nach seinem entlaufenen Hündchen suchte. Er hätte der Frau sagen wollen, dass die Seelen der Toten gar nichts beschließen. Sie beschränkten sich darauf, die ganze Zeit über zu leiden, solange sie ihre Körper überdauerten.
»Und was ist mit Ihnen?«
»Um mich habe ich keine Angst, Commissario. Ehe ich wieder zu meinem leeren Leben zurückkehre, möchte ich lieber sterben. Ein einziger Augenblick mit ihm hätte alleMühen gelohnt. Er hätte für sich selbst entscheiden können. Außerdem hat er mir immer gesagt, dass er nicht ans Schicksal glaubt. Das Kind allerdings hat mich nicht darum gebeten, zur Welt zu kommen. Ich habe nie daran gedacht, irgendwann ein Kind zu haben; ich glaubte, dass ich nicht zur Mutter geboren sei. Aber jetzt, wo ich es in mir habe«, und sie hielt sich mit einer Hand kurz den Bauch, wie um einen Kontakt herzustellen, »wird es jeden Tag wichtiger. Es gehört mir, Commissario. Mehr als irgendetwas, das ich je besaß.«
Ricciardi nickte.
»Was haben Sie also getan?«
»Ich habe das getan, was ich sollte, Commissario. Das, was die Calise mich zu tun geheißen hat.«
LVI
Als Ricciardi zurück ins Präsidium kam, war er immer noch durcheinander.
Emmas Enthüllungen hatten einige Fragen beantwortet, dafür aber neue aufgeworfen. Eine neue Person kam mit ins Spiel: ihr Liebhaber. Die Betroffenheit des ehrenwerten Professors war nun verständlicher geworden, da alles, was die Calise seiner Frau sagte, bedrohlich für seinen Ruf hatte werden können.
Auch Emma selbst konnte er ohne Weiteres zu den potentiellen Mördern zählen: Vollkommene Abhängigkeit und die Einschränkung ihrer Freiheit konnten ein sehr gutes Tatmotiv sein, auch wenn die Grausamkeit und Gewalt, mit der das Verbrechen begangen worden war, eher auf einen Mann schließen ließen. Doch Ricciardi hatte schon zu viele Gräueltaten gesehen, die von der Hand einer Frau herrührten.
Er war weiterhin der Ansicht, dass der Professor der plausibelste Adressat des Sprichworts der Calise war, jener ominösen Verwünschung bezüglich der Strafe, die das Schicksal für ihren Mörder bereithalten würde. Für ihn war Iodice unschuldig: Aber das zu beweisen war nicht leicht. Außerdem hatte er bereits am eigenen Leib erfahren müssen, dass seine Gabe ihn öfter von der Wahrheit ablenkte als ihn zur Lösung zu führen. Im Augenblick des Todes sind die Leute zu den unterschiedlichsten Gefühlsregungen fähig.
Maione traf kurze Zeit später ein wenig atemlos im Büro ein und entschuldigte sich dafür, nicht schon vor dem Kommissar da gewesen zu sein. Ricciardi sorgte sich um ihn, wie schon öfter in letzter Zeit. Aber wenn Maione ihn nicht um Rat fragte, mochte er sich ihm auch nicht aufdrängen. So beschränkte er sich darauf, ihm den Inhalt seines Gesprächs mit Emma wiederzugeben.
»In Ordnung, Commissario, ich hab’ verstanden, was das Problem des Professors war: nämlich sowohl die Frau als auch sein Gesicht zu verlieren. Aber wenn die Calise der Serra doch aufgetragen hat, ihren Liebhaber zu verlassen, warum hat der Professor sie dann getötet? Im Grunde wollten sie doch beide dasselbe, oder?«
Ricciardi strich sich die rebellische Haarsträhne aus der Stirn.
»Das ist nicht gesagt. Es könnte sein, dass Serra die Calise dafür bezahlt hat, damit sie Emma diese Antwort gibt, es aber, als die Rechnung beglichen werden sollte, zum Streit kam und er sie umgebracht hat. Es könnte auch sein, dass er von Emmas Absicht, ihn nicht zu verlassen, erst erfahren hat, nachdem er die Calise bereits getötet hatte.Oder dass er sich an der Alten dafür rächen wollte, dass sie seine Frau in die Arme eines Liebhabers getrieben hat. Vielleicht wollte Emma sich von ihrer Abhängigkeit von der Kartenlegerin befreien. Es ist alles möglich. Einfach alles.«
Maione sah ratlos aus.
»Und was machen wir jetzt, Commissario? Wir können doch nicht zulassen, dass der arme Iodice an allem allein schuld sein soll, oder? Es bleibt uns kaum noch Zeit, knapp ein Tag. Wie wollen wir vorgehen?«
Ricciardi blickte nachdenklich auf den Briefbeschwerer, den Granatsplitter, der auf seinem Schreibtisch lag.
»Sag mal, Maione, weißt du eigentlich, wie Emma Serras Liebhaber heißt? Er ist doch Schauspieler, nicht? Am Theater.«
»Ja, richtig, das hat mir zumindest der Pförtner der Serras gesagt. Seinen Namen kenne ich nicht, aber den kann ich herausfinden.
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