Der Fürst der Maler
auf den Kissen und verspeisten mit den Fingern den gebratenen Pfau und die anderen Köstlichkeiten aus der Küche des Palastes. Die Knochen warfen wir hinter uns ins Gras. Francesco und ich scherzten, und schließlich lachte auch Gian Andrea Bravo, dem seine Anspannung anzusehen war. Er wusste immer noch nicht, warum Francesco ihn zu diesem Ausflug eingeladen hatte. Hoffte er auf eine Versöhnung?
Nach dem Essen lagen wir träge auf der Decke und ließen uns die Herbstsonne ins Gesicht scheinen.
»Spanne uns nicht länger auf die Folter«, forderte ich Francesco auf. »Warum hast du uns zwanzig Meilen im Galopp durch den Wald gejagt?«
»Wir drei haben etwas zu besprechen«, erklärte Francesco geheimnisvoll. Er drehte sich auf den Bauch, um Gian Andrea Bravo und mich zu betrachten. »Ihr, Signor Bravo, seid der Vertraute und Ratgeber meines Onkels. Raffaello ist mein Vertrauter, und seinen freundschaftlichen Rat gibt er auch ungefragt. Ich will eure Meinung hören.«
»Worüber, Euer Exzellenz?«, fragte Bravo.
»Über die Unvereinbarkeit von Macht und Vergebung«, deklamierte Francesco.
»Ist das ein Zitat aus Marcus Tullius Ciceros Über den Staat? «
»Nein, Signor Bravo.«
»Dann ist es sicher von Niccolò Machiavelli, nicht wahr?«
»Nein, Signor Bravo. Das ist von mir«, sagte Francesco ungeduldig.
Gian Andrea Bravo war überrascht, sagte aber nichts, und so fuhr Francesco fort: »Ich habe Niccolò Machiavelli bei unserem letzten Treffen gebeten, seinem Principe noch ein Kapitel anzufügen. Über so vieles hat er geschrieben: über die Macht und wie man sie gewinnt, über den Fürsten und über Fortuna. Aber kein Wort über die Feindesliebe.«
»Über die Feindesliebe?«, fragte Gian Andrea Bravo verblüfft.
»Machiavelli hat mich nicht weniger erstaunt angesehen wie Ihr jetzt, Signor Bravo«, gestand Francesco. »Darüber wüsste er nichts zu schreiben, sagte er mir, denn er sei ja kein Fürst. Und schon gar kein Prophet. Diplomatisch wie immer. Dann bat er mich, ich möge ihm doch meine Gedanken zu diesem Thema mitteilen. Wie ist eure Meinung dazu, meine Freunde? Darf ein Fürst seinen Feind lieben? Ihm vergeben?«
»Jesus sagte: ›Liebt eure Feinde! Tut denen Gutes, die euch hassen. Segnet die, die euch verfluchen, und betet für die, die euch misshandeln. Was ihr von anderen erwartet, das tut ebenso auch ihnen‹«, zitierte Gian Andrea Bravo das Lukas-Evangelium.
»›Die Rache ist mein!‹, sprach der Herr. Fünftes Buch Mose, Kapitel 32«, konterte Francesco. »Zitiert nicht die Bibel in meiner Gegenwart, Signor Bravo! Raffaellos Onkel hat mir die Evangelien mit der Weidenrute eingeprügelt. Mein Onkel, der Papst, hat mich das Alte Testament gelehrt. Und dass man mit der Bibel in der Hand alles rechtfertigen kann.«
»Die beste Art, sich zu rächen, ist, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten«, warf ich ein. »Das hat Marcus Aurelius gesagt.«
»Marcus Aurelius war ein weiser Herrscher«, sinnierte Francesco. »Trotzdem wurde er ermordet. Von jemandem, dem er vertraut hat. Von jemandem, den er geliebt hat.« Er drehte sich zu mir um und sah mir in die Augen. »Liebst du mich, Raffaello?«
»Natürlich! Wir sind aufgewachsen wie Brüder. Wir haben uns ewige Freundschaft geschworen.«
»Schwüre kann man brechen«, provozierte mich Francesco.
»Niccolò Machiavelli sagt, dass ein Fürst danach trachten muss, für milde und nicht für grausam zu gelten«, erklärte ich. »Das erreicht er nur, wenn er sein Wort hält.«
Francesco setzte sich auf und blickte auf mich herab. »Und eine Seite weiter spricht dein Freund Niccolò davon, dass es am besten ist, geliebt und gefürchtet zu werden. Da es aber schwer ist, beides zu erreichen, ist es für den Fürsten weit sicherer, gefürchtet als geliebt zu werden. Ich sage dir: Ein Fürst, der sich von der Liebe seines Volkes abhängig macht, ist verloren. So wie ein Fürst, der sich auf einen Freund verlässt, ihm vertraut und von ihm enttäuscht wird. Und ein Fürst, der aus einem solchen Verrat nicht die Konsequenzen zieht, ist ein Idiot.«
»Das ist nicht von Niccolò Machiavelli«, stellte ich fest.
»Nein! Das hat Dschingis Khan gesagt.« Er starrte mich an, und unsere Blicke kreuzten sich wie Klingen.
Was war bloß in ihn gefahren?
Irgendwie schaffte Gian Andrea Bravo es, das Thema zu wechseln. Wir lagen auf der Wiese und diskutierten wohl eine Stunde über Nichtigkeiten. Die Pausen zwischen den Fragen und den Antworten wurden
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