Der Fürst der Maler
beleidigt habe«, entschuldigte er sich. »Ich habe dich einen Plagiator genannt.«
»Ich weiß, Michelangelo. Ich habe das als Kompliment aufgefasst. È vero: Ich habe dich kopiert. Aber die Grablegung Christi ist keine Kopie deiner Pietà in San Pietro.«
»Nein, Raffaello. Deine Grablegung ist das ergreifendste Bild, das ich je gesehen habe. Es hat mich demütig gemacht. Und wütend. Es tut mir Leid, wenn ich dich in meinem Zorn verletzt habe.«
»Worüber warst du zornig?«, fragte ich verblüfft.
»Dass du besser malst als ich«, sagte er. »Und dass ich zu stolz war, es dir zu sagen.«
Michelangelo und ich hatten uns versöhnt. Ein Streit mit ihm war mir unerträglich. Ich war erleichtert, dass er keine Einwände hatte, durch den Gonfaloniere von dem Auftrag für die Schlacht von Cascina entbunden zu werden. Er brannte darauf, sich in den Kampf mit dem Marmor zu stürzen.
Auch Leonardo nahm Soderinis Entscheidung, mir die Ausgestaltung des Ratssaals anzuvertrauen, mit einem Schulterzucken hin. Die Schlacht von Anghiari war für ihn verloren, bevor sie begonnen hatte. Leonardo hatte mir erzählt, dass er in wenigen Tagen nach Mailand zurückkehren würde: König Louis XII . wartete ungeduldig auf seine Rückkehr als französischer Militärarchitekt.
»Mein lieber Raffaello!«, las ich Donato Bramantes schwungvolle Handschrift mit den gigantischen, verschnörkelten Versalien. Das Ausrufezeichen hatte die Dimensionen des Glockenturms der neuen Kathedrale San Pietro. Sein Brief war an diesem Morgen aus Rom angekommen, und Leonardo brannte darauf, von seinem Freund zu hören.
»Der Neubau der größten Kathedrale der Welt und der Abriss der alten Kirche San Pietro gehen gut voran …« Ich überflog Donatos Selbstbeweihräucherung und seine Beschreibung der Baustelle im Vatikan. Dann las ich laut:
»Papst Julius ist ungeduldig, Raffaello! Er hat so viele Pläne: die neue Via Giulia, für die ich die halbe Stadt abreißen muss, die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe, die Fresken der Sixtina, die Ausmalung der Stanzen und der Loggien im Palazzo Apostolico! Im Vatikan scheint es in diesen Tagen mehr Künstler und Architekten als Bischöfe und Kardinäle zu geben.
Vorgestern gab ich ein Abendessen für Bernardino Pinturicchio, Luca Signorelli und Pietro Perugino. Alle drei haben Aufträge von Julius erhalten: Maestro Pietro arbeitet in den Stanzen. Giuliano da Sangallo und Andrea Sansovino brüten über irgendwelchen Plänen für Palazzi, Kirchen, Straßen – weiß der Himmel! Aber auch mein Lieblingsschüler Bramantino, der Venezianer Lorenzo Lotto, die Sienesen Baldassare Peruzzi und Gian Antonio Sodoma arbeiten im Vatikan. Und Michelangelo wird ungeduldig in Rom zurückerwartet …
Die größten Künstler unserer Zeit sind in Rom, Raffaello! Was, zum Teufel, machst du noch in Florenz und Urbino? Julius hat gestern nach dir gefragt. Lass ihn nicht warten! Komm nach Rom!«
Ich ließ den Brief sinken.
Leonardo, der mit mir am Arno entlangging, schwieg und beobachtete den Flug der Vögel, die mit dem Frühling nach Florenz gekommen waren. Woran dachte er? An das neue Cavallo, das Marschall Trivulzio in Mailand bei ihm in Auftrag geben wollte? An die Leda mit dem Schwan, die er vor wenigen Tagen begonnen hatte? Oder an den Automaton des mechanischen Löwen, der wie von selbst laufen konnte?
Ich begleitete Leonardo auf einer seiner endlosen Wanderungen den Arno entlang in Richtung seines Heimatortes Vinci. In seine eigene Vergangenheit.
»Wann wirst du nach Rom abreisen?«, fragte er schließlich, ohne den Blick vom Arno zu wenden. Er hatte das Projekt des Arno-Kanals zwischen Florenz und dem Meer offenbar immer noch nicht aufgegeben. Leonardo wollte nicht nur den Verlauf des Arno ändern, sondern den Verlauf der Geschichte, indem er Florenz die Vorherrschaft zur See über Genua und Venedig ermöglichte. Hatte Taddeo seine Finger im Spiel?
»Ich habe nicht gesagt, dass ich nach Rom gehe«, protestierte ich. »Ich habe einen Auftrag der Signoria, der mich mindestens zwei Jahre beschäftigen wird. Ich habe schon mit den Entwürfen angefangen. Nur weil Donato mir einen Brief schreibt …«
»Ich kenne meinen Freund Donato Bramante seit über zwanzig Jahren«, unterbrach mich Leonardo. »Wir haben in Mailand zusammen gearbeitet. Dieser Brief ist nicht von Donato.«
»Du meinst, er schreibt im Auftrag von jemand anderem?«, fragte ich vorsichtig.
»Dieser andere schreibt keine Briefe, Raffaello. Er
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