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Der Fürst der Maler

Der Fürst der Maler

Titel: Der Fürst der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Goldstein
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schlagen. Gemeinsam maßen wir unsere Kräfte an unserer Idee von der Freiheit.
    Als wir beide müde und verschwitzt, aber glücklich lachend vom Gerüst gestiegen waren, zeigte er mir seine Entwürfe für die Sixtinische Decke. Wie orientalische Teppiche entrollte er die riesigen Kartons auf dem Mosaikboden der Kapelle und breitete sie aus.
    Gemeinsam beugten wir uns über die Entwürfe.
    »Es ist … gigantisch«, sagte ich atemlos.
    »Julius nennt dein Fresko in der Stanza sein Evangelium «, sagte Michelangelo stolz, als ich mich verzückt auf den Boden kniete, um die einzelnen Szenen aus der Nähe zu betrachten. »Ich kann doch nichts Geringeres malen als du, Raffaello! Du malst den Menschen: seinen Glauben, seine Philosophie, seine Poesie, seine Ethik. Ich male die Erschaffung des Menschen. Ich werde die Genesis an die Decke der Sixtina malen«, rief er begeistert, und das Echo seiner Worte hallte von den Wänden der Kapelle zurück.
    Ich betrachtete die Zeichnungen auf dem Karton.
    Der Wille des Künstlers und sein Kohlestift hatten einen unerbittlichen Kampf miteinander ausgefochten. Die Figuren mit den angespannten Muskeln und den kraftvollen Bewegungen erinnerten mich an die Kämpfer der Schlacht von Cascina. An einen Kampf der Titanen.
    Michelangelo hatte die riesige Decke durch marmorne Architekturelemente wie Säulen und Architrave unterteilt. Auf gemalten Marmorsockeln saßen Ignudi, zwanzig nackte Jünglinge. Sie wirkten wie Statuen des Bildhauers Praxiteles, die gerade erst zum Leben erwacht waren. Jeder Ignudo war in einer anderen Position sitzend dargestellt, hin- und hergerissen zwischen Neugier, Erstaunen, Freude und Entsetzen. Einige von ihnen schienen schon die Posaunen des Jüngsten Gerichts zu hören. Andere schienen sich vor der Monumentalität der Aufgabe zu fürchten …
    In den Lünetten hatte Michelangelo Propheten und Sibyllen auf Marmorthrone gesetzt. Jonas und Jeremias, Daniel und Ezechiel, Jesaja, Joel und Sacharja lasen, von nackten Putti umgeben, in ihren Prophetenbüchern. Dazwischen thronten die Sibyllen: die libysche, persische, cumaeische, erythraeische und – die delphische Sibylle.
    Meine Mundwinkel zuckten amüsiert, als ich bemerkte, wie ähnlich die Delphische Sibylle meinen Entwürfen für das Letzte Gericht in der Stanza della Segnatura war, die ich Michelangelo gezeigt hatte …
    Ich deutete auf die erste der skizzierten Szenen. »›Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde‹ …«, zitierte ich die Genesis. »Ist das die Schöpfung der Welt?«
    Er kniete sich neben mich. »Ja, Raffaello! Die Trennung von Licht und Finsternis! Und das dort ist Die Erschaffung von Sonne und Mond! Und dort hinten: Die Trennung von Wasser und Land! «
    Auf allen vieren kroch ich ein paar Schritte weiter. »Die Erschaffung des Menschen!« , rief ich aus. Ich war verblüfft. Schüttelte den Kopf. »Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich leise.
    Der Mensch reckt Gott seine Hand entgegen, um sich von seinem Schöpfer beseelen zu lassen.
    »Doch, Raffaello, ich will es so malen. So und nicht anders!«, sagte Michelangelo.
    »Du hast Adam mein Gesicht, meinen Körper gegeben …«
    »Ich kann den ersten Menschen nicht anders malen, Raffaello! Er ist schön, unverdorben von Alter und Krankheit. Er ist aufrecht und stolz, ungebeugt von den Schlägen des Schicksals, seines Selbst bewusst. Und er ist liebenswert.« Michelangelo ergriff meine Hand und küsste sie zärtlich. »Er ist wie du, Geliebter.«
    Behutsam entzog ich ihm meine Hand. »Gott erschuf den ersten Menschen nach seinem Bild. Wie Ihn selbst erschuf er ihn. Ich bin weit davon entfernt, wie Gott zu sein. Lass mich, wie ich bin, Michelangelo! Ein zweifelnder, alles in Frage stellender Mensch. Der jeden Paradiesapfel, der ihm gereicht wird, mit Genuss verspeist. Der von jeder Frucht vom Baum der Erkenntnis nascht und keiner Versuchung widerstehen kann, bis Gott ihn aus dem Paradies verbannt.« Ich deutete auf seine Skizze. »Du kannst mich so nicht malen.«
    »Doch, eben gerade deswegen kann ich dich so malen, Raffaello! Du bist frei von allem. Du bist frei von der Sünde, einen anderen als Gottes Weg beschritten zu haben. So erschuf Er den Menschen: mit einem freien Willen. Du bist frei von dogmatischer Denkungsweise, weil du ihrem Weg nie bis zum Ende gefolgt bist – so erschuf Gott den Menschen: mit einem Verstand. Neugierig und zweifelnd. Du bist weder Stoiker noch Republikaner, weder Platoniker noch Christ.«
    »Ich bin kein Christ?«,

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