Der Fürst der Maler
fragte ich verblüfft.
»Du hast die Lehren der Philosophie und des Christentums so weit hinter dir gelassen wie Giovanni Pico della Mirandola. Giovanni Pico war ein Heiliger, ich habe ihn im Palazzo Medici kennen gelernt, als ich noch ein Junge war. Du bist wie er! Für dich gibt es nicht eine Wahrheit, sondern viele. Du würdest alles malen: den brennenden Dornbusch, Moses auf dem Berg Sinai, die Auferstehung Christi, Mohammeds Visionen und Buddhas Erleuchtung. Du bist wie jener erste Mensch, und so, genau so will ich dich malen!«
Ich erhob mich, jede weitere Diskussion schien überflüssig. Wenn Michelangelo sich entschieden hatte, war es so, als ob ein Stein bergab rollte. Er würde erst zur Ruhe kommen, wenn er den tiefsten Punkt erreicht hatte. »Mit der Genesis malst du nicht nur ein wundervolles Kunstwerk, ein Glaubensbekenntnis, ein › Credo ergo sum – Ich glaube, also bin ich‹. In der Genesis erschaffst du die Kunst neu: Am Anfang schuf Michelangelo Farbe und Form. Das sixtinische Gewölbe war wüst und leer, und Michelangelo sprach: Ich will es ausmalen. Und er sah, dass es gut war.«
»Morgen Früh, bei Sonnenaufgang, werde ich mit der Freskierung beginnen«, versprach Michelangelo lächelnd.
»Vergiss nicht, dass selbst Gott am siebten Tag ruhte«, erinnerte ich ihn scherzhaft. Ich kannte seinen selbstverleugnenden Arbeitseifer. Und die gigantische Aufgabe, die vor ihm lag …
»Ich werde erst ruhen, wenn das ganze Werk der Schöpfung vollendet ist«, lachte er übermütig. Er vibrierte vor Tatendrang.
»Wie viele Gehilfen wirst du einstellen?«, fragte ich.
»Keinen! Ich werde allein malen …«
»Du bist wahnsinnig, Michelangelo«, rief ich aus. »Vor einem halben Jahr hast du Julius erklärt, du seiest Bildhauer, nicht Maler. Noch vor zwei Wochen wolltest du nach Florenz fliehen. Und jetzt willst du diese ganze, endlose Decke allein malen?« Ich schüttelte den Kopf. »Du bist mutig.«
»Nein, Raffaello! Ich bin feige. Ich bin zu feige, um Francesco Granacci und Bastiano da Sangallo an die Farben zu lassen. Sie verstehen meine Entwürfe nicht wie du. Sie würden verderben, was ich entworfen habe. Und ich bin zu feige, es ihnen zu sagen. Ich bitte dich: Würdest du mit beiden sprechen?«
Bastiano da Sangallo fing am nächsten Morgen als mein Mitarbeiter in den Stanzen an zu arbeiten. Er hatte keine Lust wie Francesco Granacci nach Florenz zurückzukehren. Bastiano war neben mir, Gian Antonio Sodoma und Baldassare Peruzzi der vierte Maestro in meiner Bottega.
Michelangelo begann einige Tage später, die Sintflut zu malen. Wenn ich ihn in der Sixtina besuchte, war sein Haar verklebt vom Gipsmörtel und sein Gesicht bunter als meine Farbpalette. Da er Francesco Granacci und Bastiano da Sangallo und alle anderen Gehilfen entlassen hatte, war niemand da, der ihm seine Mahlzeiten kochte oder seine Hemden wusch. Michelangelo verlor an Gewicht, während er die Sintflut malte, weil er sich nicht die Zeit nahm, zu essen.
Im November legte Gianni nach nur drei Jahren Lehrzeit seine Meisterprüfung vor der Malerzunft ab.
»Rom wird dir zu Füßen liegen, Maestro Penni. Wirst du nun deine eigene Werkstatt eröffnen?«, fragte ich ihn, als wir beide seine bestandene Prüfung in der Osteria Paradiso im florentinischen Viertel feierten.
»Nein, Raffaello! Alles was ich bin, verdanke ich dir. Wenn du mich nicht bei dir aufgenommen hättest, wäre ich ein Färber geworden. Du hast mir alles beigebracht. Ich werde dich nicht verlassen! Ich werde immer dein Gianni bleiben«, versprach er.
Ich war gerührt. »Du ›verlässt‹ mich nicht, wenn du dich selbstständig machst, Gianni.«
»Du zahlst mir einen guten Lohn, Raffaello. Und ich habe ein paar Dukaten gespart. Lass mich dein Teilhaber werden.«
Verblüfft fragte ich: »Teilhaber? Wie in einem Unternehmen?«
»Ich investiere meine Dukaten, und du beteiligst mich am Gewinn«, erläuterte er mir seinen Plan. »Du bist der Capo, der Chef von vier Maestros: Gian Antonio, Baldassare, Bastiano – und mir. Du hast die künstlerische Leitung, und ich führe für dich die Geschäfte, die dich zu unser aller Unglück nicht zu interessieren scheinen«, sagte er sarkastisch. Ich wusste, was er meinte: die Verhandlungen über die Vergütung für die Ausmalung der ersten Stanza hatte Gianni für mich geführt. »Ich habe mit Gio’ über diese Idee gesprochen. Er legt im nächsten Frühjahr seine Meisterprüfung ab. Auch er wird sich an unserer Impresa
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