Der Fürst der Maler
sich setzte.
»Du warst in der Sixtina, nicht wahr?«, fragte er vorsichtig.
»Ja, heute Morgen.«
»Du hast meine Fresken gesehen. Wie gefallen sie dir?«, fragte er leise.
»Bist du hierher gekommen, um mich das zu fragen?«
»Ja, deswegen bin ich hier.«
»Was willst du hören?«, lachte ich. »Dass sie schlecht sind? Du würdest mir nicht glauben. Dass sie gut sind? Nicht einmal das würdest du mir glauben. Dass ich noch nie etwas wie diese Fresken gesehen habe? Kein Wort könnte dich überzeugen.«
Ich erhob mich und ging zur Wand des Credo.
»Kein Wort? «, fragte er verblüfft.
Mit dem Kohlestift skizzierte ich die Umrisse der Figur, die auf den Stufen unterhalb der Philosophen sitzen sollte. Dann zog ich die Linien mit der Spitze meines Dolches nach und zog eine tiefe Furche in den Verputz. Beinahe wäre die Klinge zerbrochen. Michelangelo sah mir verdutzt zu, als ich einen Hammer und ein Stemmeisen ergriff, um die Fläche einer Giornate aus der Wand zu schlagen.
Er war entsetzt. »Was tust du? Du zerstörst das Fresko!«
Ich antwortete nicht und schlug weiter auf den Putz ein, der in großen Brocken auf den Marmorboden fiel. Dann holte ich den Eimer mit dem noch nicht getrockneten Mörtel für Pindar, den ich auf die Wand auftrug und glatt strich.
Ich zeichnete Michelangelo auf den Stufen der Erkenntnis. Dann griff ich zu Pinsel und Farbe und malte sein Gesicht, seine dunklen Haare, die linke Hand, auf die er sich so nachdenklich stützte, während er mich beobachtete, die rechte Hand mit dem Stift in der Hand.
»Das bin ja ich!«, rief er erstaunt aus.
Er trat heran und sah mir zu, wie ich ohne weitere Vorzeichnung die Beine und die Stiefel an die Wand malte.
»Mhm«, murmelte ich, während ich meinen Pinsel in die violette Farbe tauchte, mit der ich vorgestern das Gewand des Sophokles im Numine Afflatur gemalt hatte.
»Du malst mich in meiner Manier! Mit meinen Farben!« Es klang wie ein Vorwurf.
»Mhm.« Ich hatte einen Pinsel zwischen den Zähnen und konnte nicht antworten.
Michelangelo nahm mir den Pinsel aus dem Mund und die Palette aus der Hand – üblicherweise assistierte mir einer meiner Schüler: Giulio oder Raffaellino. Wem hatte er zuletzt die Palette gehalten – seinem Maestro Domenico Ghirlandaio?
Eine Weile beobachtete er meine Art zu malen. »Du stellst mich schreibend dar, neben Pythagoras. Bin ich ein antiker Philosoph?«
»Du bist Herakleitos«, sagte ich.
»Der Philosoph des Werdens. ›Alles fließt‹, sagt Herakleitos. Wie ein Fluss, dessen Wasser ständig wechselt und der doch immer derselbe bleibt. Alles wird, was es einmal war.«
»Herakleitos hat noch mehr gesagt: Die Bedingung aller Dinge ist der Gegensatz, und nur aus der Spannung zwischen den Extremen kann Wirklichkeit werden.«
Und nur aus dem Kampf, dem Ringen, kann Kunst entstehen.
Michelangelo nickte.
Ob er verstanden hatte, was ich sagen wollte?
»Und noch etwas hat er gesagt«, ergänzte er nach einer Weile, »›Alles ist eins‹.«
Ich lächelte und malte das Blatt Papier unter der rechten Hand mit dem Stift. Dann die wenigen Zeilen auf dem Blatt.
Michelangelo neigte den Kopf und versuchte, die Schrift zu entziffern, kniff die Augen zusammen und trat ganz nah an die Wand. Ich spürte seinen Atem im Nacken, als er hinter mich trat.
Dann entzifferte er die ersten Worte: »Seht, Mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und erhaben.« Er stutzte, dann las er weiter: »Viele haben sich über ihn entsetzt …«
Er trat einen Schritt zurück, dann noch einen, um das ganze Bild zu betrachten. »Das ist …« Ihm stockte der Atem. »Du malst mich, wie ich den Propheten Jesaja in der Sixtina gemalt habe. Dieselbe Haltung!« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Und dieser Text ist der Beginn des vierten Liedes vom Gottesknecht im Buch Jesaja.«
Ich reichte ihm den Pinsel, ging zum Werktisch und schlug die Bibel auf. »Jesaja Kapitel 52: ›Seht, Mein Knecht hat Erfolg, er wird groß sein und erhaben. Viele haben sich über ihn entsetzt, so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen. Jetzt aber setzt er viele Völker in Staunen, Könige müssen vor ihm verstummen. Denn was man ihnen noch nie erzählt hat, das sehen sie nun. Was sie niemals hörten, das erfahren sie jetzt‹.«
Michelangelo war sprachlos. Er ließ sich auf einen Hocker sinken und starrte das Bild an. Sein Spiegelbild. Der leidende Gottesknecht. »Du hast Recht, Raffaello.
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