Der Fürst der Maler
hingen nicht nur über dem Vatikan, sondern noch immer über Italien. Im Herbst und im Winter wurde kaum ein Kanonenschuss zwischen den Gegnern abgefeuert – bis Herzog Alfonso d’Este von Ferrara am 30. Dezember 1511 die große Bronzestatue von Papst Julius, die Michelangelo vier Jahre zuvor für die Kirche San Petronio von Bologna gegossen hatte, vom Sockel reißen und einschmelzen ließ. In Ferrara ließ er daraus eine Kanone gießen, der er den Namen ›Giulia‹ gab. Was er damit vorhatte, musste er niemandem erklären.
Michelangelo weinte. Er, der seit Monaten unter den unglaublichen Strapazen der Sixtina-Fresken litt, weinte wie ein kleines Kind, als er von der Vernichtung der verhassten Bronzestatue hörte, die ihn fünfzehn Monate seines Lebens gekostet hatte. Und alles war vergebens gewesen!
Ich fand ihn oben auf dem Gerüst, als ich von meinem Abendessen mit Donato Bramante zurückkehrte.
Ich war noch wie benommen von der Neuigkeit. Ich wollte es Michelangelo als Erstem erzählen.
Donato hatte mich in den Palazzo del Belvedere gebeten, weil er ›mich bestehlen wolle‹. Ich war über den Wortlaut der Einladung, die mir ein Bote in die Stanzen brachte, verblüfft gewesen. Und neugierig! Nach dem vorzüglichen Abendessen fragte ich Donato bei einem Glas Torgiano aus Urbino, wie er mich denn bestehlen wolle. Ich wusste, dass er wegen des Erwerbs einiger antiker Statuen für seine private Sammlung Schulden hatte, und vermutete, dass er sich bei mir Geld leihen wollte. Aber es war nicht mein Geld, sondern meine Zeit, die er wollte: »Ich habe Julius vorgeschlagen, dich zum Stellvertretenden Bauleiter von San Pietro zu ernennen.«
»Und – was hat er dazu gesagt?«, hatte ich verblüfft gefragt.
»Julius hat gebrüllt: ›Raffaello als Bauleiter meiner Kathedrale‹? Und dann sagte er noch ein paar Dinge, die ich lieber nicht zitiere. Aber er hat das Breve unterschrieben«, hatte Donato zufrieden gelächelt.
»Und was sagt Giuliano da Sangallo dazu? Er ist dein Stellvertreter.«
»Giuliano war einverstanden«, hatte Donato erklärt.
»War?«
»Er ist nach Florenz abgereist. Heute Mittag.«
»Habt ihr euch schon wieder gestritten?«
»Nein, wir sind beide zu müde dazu, Raffaello. Der Bau von San Pietro ist die Hölle auf Erden. Das Gewicht der Steinmassen drückt uns nieder.
Giuliano fürchtet einen Angriff der Spanier auf Florenz. Sein Bruder Antonio ist Militärarchitekt von Florenz und verantwortlich für die Verteidigung der Stadtmauern und der Fortezza. Gestern kam die Nachricht, dass Antonio da Sangallo krank ist – ein Fieber! Piero Soderini hat Giuliano gebeten, zurückzukehren. Giuliano hat Julius heute Mittag um seine Entlassung gebeten und ist sofort nach Florenz aufgebrochen.«
Nun war ich also Stellvertretender Bauleiter von San Pietro und sollte mit Donato Bramante zusammen die neue Kathedrale bauen.
Ich hatte die Schriften von Leon Battista Alberti, Luciano Laurana und Francesco di Giorgio Martini gelesen und die Kunst der Architektur bei den besten Architekten gelernt: bei Baccio d’Angelo, Baldassare Peruzzi, Leonardo da Vinci, Giuliano und Antonio da Sangallo und Donato Bramante. Und ich hatte selbst schon einige Erfahrungen als Architekt: Ich hatte die Kirche Sant’ Eligio gebaut und zum Zeitvertreib mehrere Palazzi in Florenz und Rom entworfen. Aber einer der Bauleiter der größten Kirche der Welt zu sein – das war etwas anderes.
Mit den beiden begonnenen Fresken in der Stanza des Heliodor und Bramantes neuer Loggia zwischen dem Palazzo del Belvedere und dem Vatikanspalast hatte ich für die nächsten drei Jahre eigentlich genug zu tun. Gianni hatte sogar noch ein paar zusätzliche Gehilfen eingestellt – erfahrene Farbenreiber aus Florenz und Venedig und Maestros mit Erfahrung in der Freskierung großer Wandflächen –, damit die Impresa die Flut von Aufträgen bewältigen konnte. Der ›Wettstreit der Propheten‹ zwischen meinem Fresko des Jesaja in der Kirche Sant’Agostino und Michelangelos Daniel in der Sixtina war keine Sache mehr zwischen mir und Michelangelo, denn ganz Rom kommentierte die Fortschritte des Jesaja mit am Pasquino angeklebten Zetteln. Andrea Sansovino forderte mich zum Duell mit Hammer und Schlageisen. Und selbst Sebastiano Luciani glaubte in seinem venezianischen Wahn, sich mit mir messen zu können: Seine malerische Herausforderung, der Tod des Adonis, grenzte schon an eine Unverschämtheit – er hatte Entwürfe von Michelangelo
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