Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Ergeben neigte Berenike den Kopf, schmiegte gar die Wange an den bloßen Unterarm ihrer Mutter. Die Haut war zart, und ihre Wärme führte Berenike in die Kindheit zurück. Kurz schloss sie die Augen und gab sich der Erinnerung hin. Ihre Mutter, strahlend schön, die sie im Arm hielt und mit ihr durch den Garten auf dem Aventin tanzte, während die Sterne über ihnen kreisten und ihr Lachen wie ein Silberglöckchen erklungen war. Liebe. Es hatte so viel Liebe und Freude gegeben. Tränen quollen unter ihren geschlossenen Lidern hervor.
„Vielleicht hast du recht, Mama. Es war vermutlich ein Strohfeuer, das allzu schnell zu Asche wird.“
„So ist es, Liebes. Genauso ist es.“ Als Berenike das Gesicht hob, holte Selene hörbar Atem. Auf den Wangen ihrer Tochter glitzerten die salzigen Tränen einer Sterblichen. Selene trat wortlos zurück und stieß den Atem wieder aus. Sie verhehlte ihr Entsetzen über die sichtbare Veränderung, die für sie eine Schwäche war. Ein wehmütiges Lächeln hob ihre Mundwinkel. „Ohnehin ist er deine Liebe nicht wert. Sein eigenes Leben war ihm wichtiger. Sonst hätte er nicht zugestimmt.“
Fast unmerklich schüttelte Mica den Kopf und überführte Selene der Lüge. Juvenal war es um zwei andere Leben gegangen. Für Berenike und auch Grishan hatte er seine Zustimmung geben müssen.
Berenike erhob sich und schlenderte vor die geschlossenen Fensterläden. Die Scheiben fehlten seit Langem. Eine erste warme Frühlingsbrise drang durch die fadendünne Ritze und streifte ihr Gesicht. Das Holz des Ladens war morsch. Über die Schulter blickte sie zurück, prägte sich die Gestalt ihrer Mutter ein, das blasse Gesicht, die smaragdgrünen Katzenaugen, dielangen Flammenlocken. Aus den Augenwinkeln gewahrte sie, dass Mica seine verschränkten Arme gelöst hatte und an die Kante des Stuhls gerückt war. Er zwinkerte ihr zu.
„Ich freue mich auf Rom“, sagte Berenike und lenkte damit alle Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf sich und von Mica ab.
Als er aufschnellte und sich nach vorn auf Selene zuwarf, wirbelte sie schwungvoll herum und schmetterte beide Fäuste in den Fensterladen. Mit einem Krachen sprang das Holz auf, schlug gegen die Wände und das Licht und die Luft eines sonnigen Frühlingstages fluteten das Zimmer. Ein Aufschrei gab ihrem Sprung nach draußen einen zusätzlichen Schub. Ohne sich umzuwenden, wusste sie, dass Mica Selene gepackt hatte und sie am Einschreiten hinderte. Ein lautes Poltern war zu hören. Gemeinsam mussten sie zu Boden gegangen sein. Und von dort würden sie erst wieder aufstehen, wenn die Nacht hereinbrach. Berenike rannte so schnell sie es vermochte. Ihre Füße flogen über den Boden. Juvenal war auf dem Weg nach Spanien, und dazu musste er auf das Festland übersetzen. Er und Grishan waren in Dover. Wie sie selbst dorthin gelangen sollte in ihrer schmutzigen Kleidung und ohne jegliche Mittel war eine unerhebliche Frage. Mit einem Katana bewaffnet war sie aus Rom geflohen. Alles andere hatte sie sich beschafft. Diesmal brauchte sie nicht einmal eine Waffe, sondern einzig die Kraft ihrer langen Beine, um ihr Ziel zu erreichen. Juvenal, schickte sie ihm einen Gedanken zu, wo immer du bist, ich komme!
Es war dem Glück zuzuschreiben, dass sie trotz ihrer abgerissenen Kleidung eine Überfahrt nach Frankreich ergattert hatten, ohne in klingender Münze bezahlen zu müssen. Dafür hatten sie am Vorabend Kisten und Fässer in das Ladedeck des Seglers geschleppt und würden ihren ersten Tag in Calais damit verbringen, das Schiff wieder abzuladen. Ein scharfer Wind ließ die Segel knattern und den Segler auf den Wellen tanzen. Alles war Grau. Der Himmel, die Wolken, das Meer und seine Seele. Juvenal umfasste die Reling fester und blickte nach vorn zu einer Küste, die erst am nächsten Tag zu sehen sein würde bei diesem Wetter. Den Blick zurück hatte er sich verboten, seit er mit Grishan die Abtei verlassen hatte.
Bei seiner Rückkehr nach Spanien würden ihn blühende Obstbäume und Sträucher empfangen, denn in Andalusien hatte der Frühling bereits Einzug gehalten. Der Duft der ersten warmen Nächte würde durch seinen Hort ziehen und sein Rudel außer Rand und Band geraten lassen, so wie es stets geschah, wenn der Winter vorüber war. Die meisten von ihnen waren jung, wenn auch nicht ganz so jung wie Grishan. Dieser stand am Bug und hielt die Nase in den Wind. Sein Haar flatterte gleich einer zimtfarbenen Fahne mit seinem weiten Hemd um die Wette.
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