Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Breitbeinig stand er da, die Hände in die Hüften gestemmt und die Brust stolz herausgestreckt. Er hatte allen Grund dazu, denn den ersten ernsthaften Kampf hatte er überlebt und sogar einem Vampir die Krallen durchs Gesicht gezogen. Seitdem fieberte er der nächsten Rauferei entgegen.
Für Grishan war es die erste Seefahrt, die er ohne Angst und Ungewissheit erlebte, und er genoss sie über alle Maßen. Natürlich hatte auch er tiefen Kummer empfunden, als sie Berenike zurücklassen mussten. Am Nacken hatte Juvenal ihn aus dem Saal der Abtei schleifen müssten. Noch jetzt konnte er das harte Schaben der Krallen auf dem Stein hören, da Grishan versucht hatte, sich irgendwo festzukrallen. Ein klägliches Maunzen war aus seiner Kehle gekommen, und nach seiner Verwandlung zurück in einen Mann hatte er geweint und um sich geschlagen. Aber das war vorübergegangen. Ihre schnelle Reise nach Dover, die Hafenstadt selbst und nun das Schiff boten dem Jungen ausreichend Ablenkung, um zu seiner Unbeschwertheit zurückzufinden. Des Nachts schmiedete er Pläne, wie sie Berenike zu sich holen konnten. Juvenal hörte sie sich an, ohne ihm zu offenbaren, dass sie keinen davon ausführen würden. Grishan würde früh genug erfahren, dass er Berenike nicht mehr sehen würde. Auf diesen endgültigen Bruch hatte Juvenal sein Wort gegeben und er würde es halten.
Gischt, kalt und salzig, sprühte ihm ins Gesicht. Die Kälte der Tropfen spürte er kaum. In dem nahtlosen Grau des Horizonts glaubte er das reglose Gesicht von Berenike zu sehen, die am Boden gelegen und an der Schläfe geblutet hatte. Ihre Ohnmacht hatte er beinahe dankbar hingenommen, denn wäre sie bei Bewusstsein gewesen, er hätte nicht gewusst, ob er fähig gewesen wäre, sich von ihr loszusagen. Erst jetzt, nachdem einige Tage vergangen waren, kam ihm die Trennung wie ein logisches Resultat seiner närrischen Liebe vor. Er hatte sein Herz einer Lamia geschenkt und die Erinnerung an Sorscha und sein bisheriges Leben aufgegeben. Jetzt zahlte er den Preis. Ein hoher Preis für sehr wenige schöne Stunden, die im Nachhinein einem Rausch glichen. Trotzdem bereute er nichts. Jede einzelne Stunde mit Berenike wollte er tief in seinem Gedächtnis bewahren.
Bei allen Höllenhunden, er vermisste sie so sehr, dass sein Magen krampfte und seine Knie weich wurden. Wie sollte er jemals … jemals …? Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf den harten Schlag der Wellen und sog den Geruch nach Tang und Salzwasser tief in die Lungen. Er würde darüber hinwegkommen, so wie er bisher über jeden Verlust hinweggekommen war. Immerhin war sie am Leben und würde bei ihrer Mutter in Rom eine Zukunft haben, vielleicht sogar ein neues Glück finden. Daran und nur daran wollte er denken.
„Miss“, drang die schockierte Stimme des Kapitäns an sein Ohr. „Ihr solltet unten bleiben. Bei diesem Wind fegt es Euch sonst noch über die Reling.“
Juvenal verdrehte die Augen. Sie hatten das Gepäck des einzigen weiteren Passagiers an Bord getragen. Bunte Hutschachteln und einen schweren Schrankkoffer. Nun hatte sich die allein reisende Lady vermutlich herausgeputzt und suchte nach Unterhaltung. Das Klackern von Absätzen steuerte auf ihn zu. Hastig ging er näher zum Bug und auf Grishan zu. Es fehlte ihm noch, Konversation mit einem gelangweilten Frauenzimmer zu betreiben.
„Junge, sei vorsichtig“, rief er Grishan zu, der die Arme ausgebreitet hatte und sich dem Wind und der Gischt darbot.
Das Klackern der Absätze verstummte in seinem Rücken. Juvenal gab vor, nichts zu bemerken, versteifte sich und verschränkte die Arme.
„Miss Hunter!“, rief der Kapitän. „Euer Hut!“
Hunter? Ein sonnengelber Hut zischte an Juvenal vorüber und wehte mit flatternden Samtbändern über die Wellen davon.Er wirbelte herum. Sprachlos und mit offenem Mund starrte er sie an. Lange, tiefschwarze Haarsträhnen wehten in ihr Gesicht, umwirbelten das Honigbraun ihrer Haut. Mit einem erstickten Laut klappte er den Mund wieder zu. Sein Blick schweifte an ihr entlang nach unten, über die kostbare Robe bis zu den dünnen Seidenschuhen, die unter dem Rocksaum hervorlugten. Sogar ein Schirmchen aus sonnengelbem Stoff hielt sie in der Hand. Sie war eine wirklich gute Diebin.
„Da bin ich“, sagte sie mit bebender Unterlippe.
Eine ihrer Haarsträhnen wurde vom Wind zu ihm geweht und streifte über seine Wange. Ein sanftes Streicheln, das ihn gemahnte, dass dies kein Traum war. Sie stand
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