Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
Ungeduld huschte über das von Altersfalten gezeichnete Gesicht.
„Ihr wollt Euch also dumm stellen, Miss … Hunter.“
Berenike horchte auf. Die Worte ähnelten einem Aufblitzen von Stahl in weichem Wachs. Ihre Jagdsinne schlugen an. Wer war Mrs. Lamb und was wollte sie von ihr? Die alte Dame saß steif wie ein Stecken und mit glasig werdenden Augen vor ihr, während sich Schweißflecken unter ihren Achseln ausbreiteten. Unnatürlich schnell wurden sie größer. „Was wollt Ihr mir damit sagen, Mrs. Lamb?“
Die alte Dame blinzelte, machte einen pfeifenden Atemzug und zeigte in einem breiten Lächeln ihr Holzgebiss. „Ich spreche von Eurer Zukunft, Miss Hunter. Womöglich könnt Ihr es Euch nicht vorstellen, aber sie liegt mir am Herzen. Don Schuvenal ist Ausländer. Bekanntlich leben diese nach anderen Maßstäben. Mit Eurem dunklen Teint seid Ihr leicht selbst mit einer Spanierin zu verwechseln. Das müsste ihm zusagen. Und wer weiß, möglicherweise gibt es weitere Gemeinsamkeiten und Interessen. Vor allem Interessen.“
Mrs. Lamb war vollkommen verrückt, wenn sie das vermutete. Es gab weder Gemeinsamkeiten noch übereinstimmende Interessen mit einem Alphawolf, der unter falschem Namen nach dem Mörder seines Sohnes suchte.
„Ihr scheint Euch sehr viele Gedanken über mich zu machen, Mrs. Lamb.“
„Das liegt an Eurem Liebreiz und Eurer Anmut, Miss Hunter. Ihr seid bezaubernd, und ich bin sicher, dass Ihr diesen Spanier bestricken könnt. Natürlich gilt das für jeden englischen Gentleman, doch im Gegensatz zu diesem wird ein spanischer Grande Euch die Ehe antragen, anstatt Euren Ruf zu ruinieren.“
„Eine Ehe?“, echote Berenike.
Unter der voluminösen Perücke wirkte der Kopf der alten Dame wie eine hohle, mit Luft gefüllte Schweinsblase. Mrs. Lamb zog ein Gesicht, das ihren Teint in unfassbar viele Falten zerspringen ließ.
„Oder habt Ihr ein gesteigertes Interesse an diesem rothaarigen Verführer aus Schottland? Ich frage mich, wo sich dieser Halunke herumtreibt. Kann es sein, dass Ihr Euch heimlich mit ihm trefft?“
Die Fragen waren viel zu bohrend für Berenikes Geschmack. Ganz zu schweigen davon, dass der Verlauf dieser Unterhaltung sie zunehmend verwirrte. Was war los mit dieser Frau? Im Plauderton fuhr Mrs. Lamb fort.
„Ich meine es nur gut mit Euch, Miss Hunter. Zumal ich wissen muss, mit wem Ihr Eure Zeit …“ Abrupt schwenkte Mrs. Lamb um. „Jedenfalls scheint dieser Don Schuvenal überaus gesellig zu sein. Er besuchte bereits Vauxhall Gardens und verschiedene Theater. Demnächst wird er gewiss eine Gesellschaft besuchen. Lord Garron war ein sehr vermögender Mann und hatte überall Zutritt. Seinen Nachfolger wird man mit Einladungen überhäufen. Wir müssten lediglich herausfinden, welcheer annimmt, um Euch vorzustellen. Gänzlich unverfänglich, das versteht sich von selbst.“
Woher immer Mrs. Lamb ihre Informationen bezog, obwohl sie nie das Haus verließ, hier bot sich eine Chance. Eine Begegnung in Gesellschaft verringerte die Gefahren. Berenike könnte Juvenal de Garou aus unmittelbarer Nähe beobachten und im Anschluss entscheiden, wie sie vorgehen wollte.
„Ich halte das für eine fabelhafte Idee, Miss Hunter.“
„Ja, sie ist eine Überlegung wert“, murmelte Berenike nachdenklich.
„Gelegenheiten sind rar gesät. Manchmal sollten sie ungenutzt verstreichen. Manchmal können sie auch das Ende einer langen, unergiebigen Suche bedeuten.“
Berenike überging dieses kryptische Gerede. Weitaus wichtiger als die Anwandlungen einer alten Frau war die Vorbereitung auf eine Begegnung mit Juvenal de Garou einschließlich aller erforderlichen Vorsichtsmaßnahmen. Sie wollte wie eine Lamia handeln. Selene, Mica und das alte Volk sollten erfahren, dass sie auch ohne Gift zu großen Taten fähig war.
Die Laternen warfen rote Lichtkegel an die Hauswand und schürten das Leuchten in den Augen des jungen Werwolfs. Seit ihrem Aufbruch war Grishan gespannt wie ein Flitzebogen. Mit diesem Ausflug wollte Juvenal die grimmige Auseinandersetzung am Morgen vergessen machen und einen neuen Anfang finden. Grishan musterte die purpurrote Tür und rümpfte die Nase.
„Ich kenne dieses Haus. Es gehört einer gewissen Lilian Prescott.“
Lilly, so wurde sie von Stammgästen genannt, führte nicht nur irgendein Haus, sondern das teuerste Etablissement in London. Ihre Mädchen wurden Nymphen genannt. Allein diese Bezeichnung trieb den Preis in die Höhe. Juvenal war nur ein
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