Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
denn … Juvenal sog scharf die Luft ein. Bei allen Höllenhunden! Der vehemente Ausbruch ergab einen Sinn. Grishan hatte geliebt. Weit über die Liebe eines Pflegesohnes für den Ziehvater hinaus. Es war eine Liebe, die alle Regeln der Sippen sprengte. Hin und wieder kam es vor, aber Alphawölfe mit einem Hang zum eigenen Geschlecht wurden verhöhnt und verlacht. Da konnten sie noch so großartige Kämpfe austragen.
Er schloss eilig zu Grishan auf. In dem schmalen Gesicht fochten Zorn, Trauer und Frustration. Selten hatte Juvenal seinen Ruf als Druckmittel eingesetzt. In diesem Fall war es unerlässlich. Der Name Garou wehrte jede Beleidigung ab, war ein Schutzschild, das Grishan dringend benötigte.
„Gilian nannte dich Sohn, damit bist du ein Garou. Unsere Sippe hält eisern zusammen, Junge. Was auch immer geschieht,du bleibst der Bruder meiner Söhne und mein Ziehsohn.“
„Ich hatte einen Vater, und er ist tot! Einen anderen brauche ich nicht. Gilians Mörder soll durch meine Hand sterben.“
Das war die Antwort eines Kriegers. Mit einer Vehemenz gesprochen, die weit über seine Jahre hinausging. Jäh keimte Zuneigung in Juvenal auf und zog einen Riss durch sein Weltbild. Gilian war geliebt worden. Nicht etwa von einer Dorothy Swindon, für die er gestorben war, sondern von Grishan. Eine aussichtslose Liebe, zweifelsohne, aber seine bisherigen Prinzipien zerschellten daran. Hätte Gilian das tiefe Gefühl erwidert, wäre er noch am Leben. Verspottet von den einen, verachtet von den anderen – aber definitiv am Leben.
„Also gut. Ich versuche mein Bestes, dir den Vampir zu bringen. Halte dich aus meiner Jagd heraus und du darfst ihm den Todesstoß versetzen. Ist das eine Abmachung?“
Über lange Zeit blieb Grishan stumm. Nur langsam ebbte sein aufgebrachtes Zittern ab. Der kantige Schliff seines Kinns nahm zu, als er Juvenal aus schmalen Augen ansah.
„Vielleicht haben wir die.“
Das war immerhin ein Anfang.
Es waren so viele. Nie zuvor hatte Berenike einer so großen Anzahl von Sterblichen gegenübergestanden.
Die Menge im Ballsaal erinnerte weniger an die märchenhaften und ihr unbekannten Zeiten, in denen Lamia und Vampire als Gottheiten verehrt wurden, sondern vielmehr daran, dass es von jeher Blutquellen gegeben hatte, die gegen ihr Herdendasein aufbegehrten. Jene Männer und Frauen hatten sich in die Felle von Wölfen und anderen Raubtieren gehüllt und waren gegen ihre Götter in den Krieg gezogen. Einer dieser Krieger hatte einst einen Pakt mit einer Strega geschlossen. Daraus waren die Werwölfe entstanden und mit ihnen die Bestien, die in den Vollmondnächten ausbrachen. Allerdings benötigten die im Saal Versammelten weder Waffen noch Klauen. Ihre Mehrzahl reichte aus, um Berenike zu überwältigen. Zu viele Fäuste und Hände, die auf sie einschlagen, sie in Stücke reißen konnten. Sie fühlte sich umzingelt, zumal sie die Blicke auf sich zog. Das Zitronengelb des Kleides war ein zu starker Kontrast zu ihrer dunklen Haut. Anstatt ihr schwarzes Haar zu einer verschlungenen Krone aufzustecken, hätte sie es unter einer Perücke verbergen sollen. Inmitten der hellhäutigen Engländer mit ihren rosigen Gesichtern erregte sie zu viel Aufsehen. Zudem hatte Mrs. Lamb maßlos übertrieben. Angeblich war sie in der Gesellschaft geschätzt, aber die Gastgeber waren bei der Begrüßung irritiert gewesen und keiner der Anwesenden blieb bei ihnen stehen, um eines dieser seichten Gespräche zu beginnen, deren Wortfetzen durch den Saal flogen.
„Vergnügt Euch, Miss Hunter. Ich sehe mich unterdessen nach dem spanischen Granden um.“
Damit tauchte die alte Dame in die Menge ein und überließ Berenike sich selbst. Nach kurzem Zaudern schob sie sich durch die Gäste, darauf achtend, niemanden zu berühren. Die unterschiedlichsten Blutströme vermengten sich in ihren Ohren zu einem unterschwelligen Crescendo. Ihr Unbehagen wuchs. Von der Fügsamkeit einer Herde waren diese Sterblichen weit entfernt. Aus ihren Mienen war herauszulesen, dass sie sich für die Krone der Schöpfung hielten. Über die Jahrtausende hatten sie neue Stärken entwickelt, neue Waffen ersonnen, einen eigenen Willen kultiviert. Dieser nahm an Macht zu, je mehr von ihnen zusammenkamen.
Ein Tusch brach über Berenike herein und die Musiker begannen zu spielen. Die Menge wogte hin und her, um die Tanzfläche freizugeben. Berenike wurde an den Rand des Ballsaales geschoben, direkt vor einen freien Stuhl an der Wand, auf den sie
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