Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
schlank war, verrieten die breiten Schultern seine Kraft. Seine Kleidung war so höllenschwarz wie sein Haar. Der kurze Haarschnitt betonte die nüchterne Strenge seiner Züge, aus denen keine Regung abzulesen war. Prägnante Kerben zogen sich von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Durch und durch entsprach er ihrer Vorstellung von einem kaltblütigen Krieger und Mörder etlicher Vampire. Von den berüchtigten Trieben eines Alphawolfes hatte sie hingegen nichts an ihm wahrgenommen. Vielleicht hatte er diese schon vor vielen Jahren abgestreift.
Juvenal de Garou war ein tödlicher Gegner. Das zumindest war sein Ruf im alten Volk. Mögliche Schwachstellen blieben unerwähnt. Seine härtesten Kämpfe lagen lange zurück, aber darüber hinwegzusehen wäre fatal. Hatte sie gegen ihn überhaupteine Chance? Wie jede Lamia war sie geübt, das Misstrauen anderer einzuschläfern. Sie musste dieses Talent so weit steigern, dass eine kleine Silberklinge ausreichte, um seinen Lebensfaden zu durchtrennen. Selene hatte auf diese Weise einige Alphawölfe erledigt und nannte es ein Spiel, aber Berenike hatte es noch nie gespielt. Der Gedanke, ausgerechnet bei Juvenal de Garou damit anzufangen, führte eher zu Schreckensschaudern denn zu einem wohligen Nervenkitzel. Es war ein Leichtes, die Sinne der Sterblichen zu verwirren. Versuchte sie dies bei einem Werwolf, dessen Sinne derzeit auf Vergeltung ausgerichtet waren, riskierte sie ihr ewiges Dasein. War es das wirklich wert? Seit einer Woche mündeten ihre Gedankengänge unweigerlich in dieser Frage, und jedes Mal fiel ihr nur eine Antwort ein: nein. Sie sollte London verlassen und sich auf die Suche nach einem kleinen, sicheren Hort machen. Vorzugsweise am anderen Ende der Welt.
Wie schon in den vergangenen Nächten trat Berenike in den Salon und fand ihre Hausherrin in einem Sessel schlummernd vor. Zu jeder Stunde weilte die alte Dame an diesem Platz, die obligatorische Kanne mit kaltem Tee in Griffnähe. Diesmal zog sich Berenike nicht sofort wieder zurück, sondern umrundete den Sessel. Während ihrer nächtlichen Wanderungen durch das schmale Haus war ihr aufgefallen, dass die meisten Zimmer kein Mobiliar besaßen. Auf den Dielen lag eine dicke Staubschicht, und in den Wänden roch es nach Schimmel. Mrs. Lamb schien seit Jahren nur wenige Zimmer zu benutzen und den Rest verfallen zu lassen. Die offensichtliche Armut ihrer Hausherrin widersprach den Mengen an teurem Fliederwasser, mit dem sie sich besprühte.
Berenike beugte sich vor und schnupperte. Der Fliederduft traf gleich einem Keulenschlag auf ihre feine Nase. Trotzdem sog sie ihn tief ein, um den Eigengeruch herauszufiltern. Erde? Keine Sterbliche roch nach Erde. Sie schob sich näher an den faltigen Hals heran. Eine fischige Nuance? Nein, auch nicht. Der Geruch kam ihr dennoch vertraut vor. Woher kannte sie ihn? Sie inhalierte tief und stutzte. Der Tiber! Mrs. Lamb roch, als hätte man sie an einer besonders schlammigen Stelle durch den Tiber gezogen. Merkwürdig. Bevor sie sich näher damit befassen konnte, stockten die blubbernden Atemzüge der alten Dame. Hastig wich Berenike zurück. Faltige Lider hoben sich. Berenike saß bereits in einem Sessel, als die wässrigen Äuglein sie erfassten.
„Wir alle sind auf der Suche, Miss Hunter“, hob Mrs. Lamb ohne erkennbaren Zusammenhang an und klatschte in die Hände. „Selten ist mir Schlaf gegönnt, aber diesmal brachte er mir eine Eingebung.“
Berenike setzte ein nichtssagendes Lächeln auf. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Frau.
„Eure Ankunft in London fiel mit einem misslichen Todesfall zusammen. Lord Garron ist verstorben. Sein frühes Ableben ist sowohl seltsam als auch bedauerlich. Doch Euch könnte es Vorteile bringen, nicht wahr?“
Berenike stand kurz davor, eine Grimasse zu schneiden. Ihr hatte dieser Tod nur Nachteile gebracht und sie in tiefe Selbstzweifel gestürzt. Mrs. Lamb paddelte mit den Füßen in der Wasserschüssel unter ihren Röcken.
„Welchen Vorteil sollte mir das bringen?“
Mrs. Lamb bedachte sie mit einem eindringlichen Blick und kicherte. „Nun ja, Lord Garron hat einen Vetter. Es mag Zufall sein, dass er sich gerade in London befindet, oder wie würdet Ihr das nennen? Angeblich kommt er aus Spanien. Don Schuvenal dela Ronda. Ihr habt bestimmt schon von ihm gehört.“
„Nein.“ Dieser verdammte Werwolf verfolgte sie bis in diesen schäbigen Salon. Die faltigen Lippen ihrer Hausherrin wurden schmal. Ein Hauch von
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