Der Fürst der Wölfe - Wegner, L: Fürst der Wölfe
hatte sie sich bisher nie nach Liebe gesehnt. Nach Anbetung und Verehrung, das schon, aber Liebe hatte keinen Platz in ihrem Dasein gehabt. Und jetzt konnte sie an nichts anderes denken. Seine Abweisung zerdrückte ihr Herz zu einem blutigen Klumpen, der schmerzhaft in ihrer Brust pochte. Sie zog das Tuch hinab und musterte sich. Ihre Augen waren klar und trocken. Damit das so blieb, brauchte sie Ablenkung.
Sie ging in die Bibliothek. Im Hort eines Werwolfs waren die Fensterläden dicht geschlossen, sodass Mondschein und Sonnenlicht gleichermaßen effizient ausgesperrt wurden. Mica lümmelte im Schein vieler Kerzen auf einem Kanapee und schien mit sich im Reinen. Sofern er daran dachte, Branwyn das Attentat mit Rache zu vergelten, hatte er keine Eile damit. Wie jeden Tag leistete der Miezekater ihm Gesellschaft. Seine Anhänglichkeit rührte vermutlich daher, dass er in Mica einen geduldigen Zuhörer und mitreißenden Geschichtenerzähler gleichermaßen gefunden hatte.
„Gilian sagte stets, Überraschung sei die beste Taktik. Worauf warten wir eigentlich, Mica? Jederzeit kann Branwyn einen anderen Hort aufsuchen. Mit jedem Tag wächst die Wahrscheinlichkeit, dass er uns entwischt“, sagte Grishan und schlug sich in die Faust.
Berenike setzte sich in dem Bedürfnis nach ein wenig Trost zu ihrem Bruder und zog seinen Arm um ihre Schulter. Verwundert über ihr Verhalten hob er eine helle Augenbraue, drückte Berenike jedoch gleichzeitig fester an sich. Sie war etwas verwundert über sich. Einst hatte sie Mica um seine Macht und seine sahnig helle Haut beneidet. Sie waren von einem Stamm, entsprangen einem Schoß, waren die einzigen Kinder der ältesten Lamia des alten Volkes. Sie gehörten zusammen. Das hatten Bran-wyns Angriff und die schwere Verletzung, die er Mica zugefügt hatte, ihr bewusst gemacht. Außerdem war es überaus angenehm und tröstend, sich an den großen Bruder zu lehnen und seinen sauberen Duft einzuatmen.
„Manchmal besteht die Überraschung im Stillhalten und Abwarten, Grishan“, sagte er. „Branwyn soll davon ausgehen, dass er mich ausgelöscht hat. Wenn er keinen Gegenschlag erwartet, wird seine Vorsicht nachlassen und das ist ganz in meinem Sinn.“
„Darf ich wenigstens dabei sein, wenn du ihn umbringst?“
Leise lachte Mica auf. „Von einem schnöden Mordplan bin ich weit entfernt. Ich werde Branwyn nicht töten. Zumindest nicht mit eigener Hand. Das Urteil über ihn wird die Abordnung fällen, die er nach London gebeten hat.“
Berenike hob den Kopf von seiner Schulter. Der Plan barg große Risiken. „Er will ihnen den Spiegel der Sonne zeigen, Mica. Wenn nur die Hälfte zutrifft, was über diesen Mythos gesagt wird, werden sie Branwyn alles glauben und er könnte deine Anklage leicht aushebeln.“
„Deshalb werde ich dafür sorgen, dass er mit leeren Händen vor die Abordnung tritt. Der Kristall muss in seiner Nähe sein. Es gilt, ihn zu finden und an mich zu nehmen.“
„Willst du ihnen etwa selbst den Spiegel der Sonne zeigen?“
Er verzog die Lippen. „Ich neige nicht zu Größenwahn. Ein wahr gewordener Mythos hat es an sich, Unruhe zu stiften. Jeder würde danach gieren und ihn für sich beanspruchen. Nein, ich gebe ihn der Asrai zurück.“
Grishan fuhr auf. „Dann wird diese Kreatur dafür belohnt, dass sie Gilian tötete!“
„Ein Naturgeist ist wahrhaft unsterblich und kann nicht vernichtet werden, Grishan. Gilian ist ein Unglück zugestoßen, vergleichbar mit einer Naturkatastrophe. Du musst dich mit den Tatsachen abfinden, so schwer es dir fällt.“
Das tiefe Schnurren aus Micas Kehle konnte Grishan beschwichtigen. Berenike stimmte ein. Der Miezekater hob ihre triste Stimmung. Fasziniert von ihren Schnurrlauten wurden seine Augen groß. Es war ihm anzusehen, dass er mitschnurren wollte. Er besaß die schönsten Augen, die sie je gesehen hatte. Ein klares Goldbraun, als würde sich ein Sonnenstrahl darin brechen. Mit ihm wäre vieles leichter als mit einem von Ehrgefühlen und Disziplin angetriebenen Werwolf.
„Seit Tagen sitzen wir tatenlos herum. Das ist langweilig!“, beklagte er sich. Das Maunzen in seiner Stimme verriet seine Jugend.
„In deinem Alter langweilte ich mich auch häufig“, erwiderte Mica. „Ungeduld ist das Privileg der Jugend.“
„Hört, hört“, warf sie ein und schmiegte sich an ihn.
Sein Körper strahlte Wärme aus und schenkte Geborgenheit. Mica war der Einzige, der ihre Veränderungen ohne großen Hader akzeptierte.
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