Der Funke des Chronos
Billet d’entrée in die europäische Kultur sein sollte.« Spöttisch verzog er den Mund. »Viel geholfen hat es mir nicht. Meine Schriften sind seit sieben Jahren in Deutschland verboten, und ich bin jetzt bei Christ und Jude verhaßt. Mein Onkel hat mir diesen Schritt nie verziehen. Jetzt wollen Sie sicher wissen, warum ich dem evangelischen Glauben angehörig bleibe. Ganz einfach: weil er mich nicht geniert, ebenso, wie er mich schon damals nie allzu sehr genierte. Ich bin derselbe geblieben.«
»Deswegen also dieses außergewöhnliche Verhältnis, das Sie und Ihr Onkel haben?« meinte Tobias neugierig. »Entschuldigen Sie meine Offenheit, aber ich war ehrlich gesagt etwas überrascht.«
Heine lachte zum ersten Mal, seit sie sich begegnet waren. »Nein, das liegt an etwas anderem. Sehen Sie, meine Mutter hat schönwissenschaftliche Werke gelesen – und ich bin ein Dichter geworden; meines Onkels Mutter dagegen hat den Räuberhauptmann Cartouche gelesen. Und so ist Onkel Salomon Bankier geworden. Er hat daher, was ich nicht habe – nämlich Geld. Und ich habe, was er nicht hat – nämlich Geist und Wissen. Doch in Wahrheit sind wir uns ähnlicher, als wir einander eingestehen wollen. Und Sie?«
»Ich bin Waise«, erklärte Tobias und unterdrückte ein Gähnen. Er spürte, dass ihm der Schlaf der letzten Nacht fehlte. »Kein Vater, keine Mutter und auch kein Onkel. Leider.«
»Das tut mir leid. Gründen Sie dereinst einfach eine eigene Familie«, riet ihm der Dichter. »Man braucht einen Platz, an den man gehört.«
»Sind Sie denn verheiratet?« wollte Tobias wissen.
»Ja. Mathilde, mein geliebtes Kätzchen, ist Französin. Sie weiß nicht, dass ich zur Zeit in Deutschland weile.« Er seufzte und maß den jungen Mann mit festem Blick. »Sie sind mir immer noch ein Rätsel, mein junger Freund. Ich muss zugeben, dass Sie die Eröffnung vorhin mit bemerkenswerter Gelassenheit hingenommen haben.«
Tobias lachte, doch dies fiel ziemlich freudlos aus. »Vielleicht erzähle ich Ihnen irgendwann einmal die ganze Geschichte, durch die ich in dieses Schlamassel geraten bin. Glauben Sie mir, ich wundere mich inzwischen über gar nichts mehr.«
»Ah, wir sind gleich da.« Heinrich Heine deutete durch das Droschkenfenster nach draußen. Tobias sah den mächtigen Wall am Stadtrand, der groß wie ein Berg in sein Blickfeld trat. Längst war er zu einem mit Bäumen bepflanzten Boulevard umgewandelt worden. Auf dem eingeebneten Gelände einer der alten Schanzen, nur unweit vom Deichtor entfernt, erhob sich ein ansehnlicher zweigeschossiger Bau mit Flachdach und angrenzendem Wasserturm: der Bahnhof.
Für das Gebäude hatte man praktisch eine Bresche in den Stadtwall geschlagen. Eine Trasse mit Eisenbahnschienen führte von einem überdachten Nebengebäude über den wassergefüllten Stadtgraben, wo sie sich Tobias’ Blicken schließlich entzog. Schienenleger und andere Handwerker legten auf dem Gelände letzte Hand an. Die Arbeiter wurden dabei von einem vornehm gekleideten Publikum beobachtet, das sich nicht weit vom Bahnhof entfernt unter einem schmucken eisernen Pavillon bei Kaffee und Kuchen versammelt hatte. Tobias war gezwungen, die Augen abzuschirmen, weil sich das Licht der Nachmittagssonne gleißend hell auf dem metallenen Dach des Cafés brach.
»Man könnte heute gut eine Sonnenbrille gebrauchen«, seufzte er.
»Eine Sonnenbrille?« fragte Heine erstaunt. »Sie meinen eine Brille mit getönten Gläsern? Sie kommen auf extravagante Ideen, mein junger Freund. Wussten Sie, dass Nero die Gladiatorenkämpfe in Rom einst durch einen grünen Smaragd beobachtet hat? Einen Smaragd, verstehen Sie?«
Jetzt zwinkerte ihm der Dichter zu und hieß den Droschker anzuhalten, damit sie aussteigen konnten. Auf der Straße streckte Tobias erst einmal die Glieder und genoss die warmen Strahlen der Maisonne. In der Luft lag Vogelgezwitscher, und vom Bahnhof drangen beständig das Schwatzen und Lachen der Pavillongäste herüber. Der Dichter allerdings hatte für den Bahnhof kaum einen Blick übrig.
»Die Adresse lautet ›Bei den Pumpen 17‹«, erklärte er und beäugte die Straße vor dem Wall bis hinüber zu einem großen Bauhof. »Das Haus soll aber auf der rückwärts gelegenen Seite liegen. Kommen Sie.«
Tobias folgte Heine, der sich jetzt einen hellen Sonnenhut tief in die Stirn gezogen hatte. Plötzlich entdeckte er zwei Männer, die ihm sehr bekannt vorkamen: Justus Lewald und William Lindley, den englischen
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