Der Funke des Chronos
ausgebreitet?«
»Wie man hört«, murmelte der Dichter gequält, »ist das Feuer bereits heute morgen über das Deichstraßenfleet gesprungen und hat die Häuser gegenüber entzündet. Inzwischen brennt auch der Rödingsmarkt. Die Trockenheit der letzten Tage sorgt dafür, dass die Flammen reichlich Nahrung finden. Unglücklicherweise hat der Wind aus Westen aufgefrischt und treibt die Flammen auf den Hopfenmarkt zu. Da draußen finden unbeschreibliche Szenen statt.«
Tobias schlüpfte in seine Jacke, die nach Rauch stank, und überlegte verzweifelt, was er von dem Brand wusste. »Sie müssen Ihren Onkel warnen. Das verdammte Feuer wird sich über den Jungfernstieg hinaus bis zur Petrikirche ausbreiten. Es wird die ganze Innenstadt vernichten.« Plötzlich fiel ihm ein, warum er die alte Kirche am Hopfenmarkt nicht erkannt hatte. »Die Nikolaikirche! Sie wird einstürzen. Wir müssen …«
»Hören Sie auf!« schrie ihn Heine an. »Ich glaube Ihnen nicht. Ich weigere mich schlechterdings, Ihnen diesen Unsinn abzunehmen.«
»Was wollen Sie denn noch für einen Beweis?« schrie Tobias zurück. »Da draußen werden Menschen sterben. Elendig im Feuer krepieren. Über zwanzigtausend Menschen werden obdachlos! An diese Katastrophe wird man noch in hundertfünfzig Jahren denken. Glauben Sie, ich stehe hier und sehe tatenlos zu? Ich muss …«
»Gar nichts müssen Sie!« schrie ihn der Dichter an. »Das gestern war ein Unfall! Ein elender, dreimal verfluchter Unfall! Wenn Sie schon jemanden dafür verantwortlich machen wollen, dann diesen … diesen Lindley oder wer auch immer uns gestern angegriffen hat.«
Heine ließ von ihm ab, setzte sich auf einen Hocker und strich sich fahrig durch das lockige Haar. Auch er wirkte müde. »Nein. Ich kann nicht glauben, was Sie da gestern angedeutet haben. Aber wenn diese … diese Sache stimmt« – er blickte Tobias mit einer Mischung aus Furcht und Niedergeschlagenheit an –, »dann können wir nichts daran ändern können. Nichts.«
Tobias sank auf sein Bett zurück und schwieg. In Wahrheit war diese Gegenwart seine Vergangenheit. Blieb er wirklich zur Untätigkeit verdammt?
Heine erhob sich, trat ans Fenster und starrte eine Weile hinaus.
»Sie wussten wirklich von alledem? Sie stammen tatsächlich aus der … der …?«
»Ja. Und nein.« Tobias seufzte. Stockend berichtete er, was ihm seit der Begegnung mit dem Uhrmacher widerfahren war. »Ich verlange nicht, dass Sie mir glauben«, endete er. »Ich habe das selbst alles noch vor wenigen Tagen für unmöglich gehalten. Aber denken Sie bitte an diesen Smaragd und das Notizbuch Ihres Onkels. Klingt das nicht mindestens ebenso verrückt?«
Heine rührte sich nicht. Schließlich atmete er tief ein und wandte sich mit zusammengekniffenen Augen um. »Erwarten Sie jetzt nicht, dass ich irgend etwas über die Zukunft wissen will. Wenn diese absurde Geschichte überhaupt stimmt.« Er atmete tief ein. »Ich will mich mit diesem Wissen nicht belasten. Geben Sie mir Ihr Wort drauf.«
Tobias nickte. »Nur eines: Man wird Sie in meiner Zeit als einen der größten deutschen Dichter feiern. Ich denke, Sie haben ein Recht darauf, dies zu erfahren. Nach allem, was wir beide bisher erlebt haben.«
Heine blickte zum Fenster. Plötzlich zitierte er:
»Ich hatte einst ein schönes Vaterland
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch,
die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.
Das küsste mich auf deutsch und sprach auf deutsch.
Man glaubt es kaum, wie gut es klang.
Das Wort: ›Ich liebe dich!‹
Es war ein Traum …«
Dann stand er kopfschüttelnd auf. »Ein schöner Gedanke, aber ich werde nicht so töricht sein, Ihnen das zu glauben.«
»Ich meine, das folgende Zitat stammt ebenfalls von Ihnen«, erwiderte Tobias. »Wer nie im Leben töricht war – ein Weiser wird er nimmer!«
»Verschonen Sie mich damit!« brummte Heine. »Lassen Sie uns lieber den Lumpen finden, der für dieses ganze Debakel die Verantwortung trägt. Inzwischen habe ich die Sachen unseres Gegners durchsucht. Dabei habe ich etwas Interessantes herausgefunden. Ich sage es Ihnen nur ungern, aber es sieht so aus, als wären wir gestern Nacht verraten worden.«
Der Dichter übergab Tobias einen schmalen, zuvor zusammengerollten Zettel, auf dem in feinsäuberlicher Handschrift einige Zeilen standen. Tobias wird heute Nacht auf einem Schiff im Hafen zu finden sein. Der Name des Schiffes lautet Hammonia. C.
Ungläubig starrte Tobias die Zeilen an.
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