Der Funke des Chronos
»Caroline!«
Wütend sprang er auf. »Jetzt weiß ich, wer der Kerl gestern Nacht war. Doktor de Lagarde! Dieser Schuft hat Caroline am Abend einen Besuch abgestattet. Ich bin ein Narr!« Er schlug sich vor den Kopf. »Er hat ihr – angeblich aus therapeutischen Gründen – eine Taube dagelassen. Wie blind muss ich gewesen sein! Ich verwette mein rechtes Auge, dass es sich dabei um eine Brieftaube handelte.«
Heine sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Davon abgesehen, dass ich keinen Mann dieses Namens kenne – warum sollte uns die junge Frau verraten haben? Zürnt sie Ihnen?«
Tobias dachte nach. »Nein, viel schlimmer. Erinnern Sie sich – vorgestern Nacht im Keller der Abdeckerei? Der Seziertisch. Die anatomischen Studien an der Wand, das Labor und die schrecklichen Prozeduren, denen die Opfer unterworfen wurden. Da war jemand tätig, der sich in den Wissenschaften auskennt. In der Anatomie. Ein Arzt. Doktor de Lagarde ist Arzt. Und dann diese mesmeristischen Gerätschaften. Caroline schien mir gestern seltsam verändert. Dieser Kerl hat sie hypnotisiert oder unter Drogen gesetzt. Das ist die einzige Erklärung, die es meiner Meinung nach gibt. Erst hat er sie auf diese Weise über mich ausgefragt, und dann … Den Rest kennen Sie.«
»Aber warum ist er hinter Ihnen her?« wollte der Dichter erstaunt wissen.
»Er ist auf der Suche nach dem Smaragd«, erklärte Tobias. »Er hat mich während des Kampfs unverblümt darauf angesprochen. Und er wusste von meinem Geheimnis. Auch das kann er nur von Caroline erfahren haben.«
»Was also bedeutet, dass dieser Franzose den Smaragd noch nicht besitzt«, schlussfolgerte Heine.
Tobias schüttelte den Kopf. »Da sollten wir uns nicht zu sicher sein. Den Stein gibt es in dieser Zeit zweimal. ›Meinen‹ Stein, wenn Sie so wollen, besitzt derzeit die Polizei. Er wurde bei einer Zimmerdurchsuchung im Haus der Lewalds gefunden.«
»Sie haben den Stein die ganze Zeit über besessen?«
»Nein. Ja. Ach.« Tobias winkte ab. »Ich wusste nicht, dass ich ihn besaß. Er war in einen Teil der Apparatur eingearbeitet.«
»Sie haben ein Talent darin, Angelegenheiten zu verwickeln«, spottete Heine.
Tobias durchwühlte hastig seine Jacke und förderte die Visitenkarte des Franzosen zutage, die er seit dem Gartenfest bei sich trug.
»De Lagarde praktiziert in der Innenstadt. Was halten Sie davon, dem Kerl auf den Zahn zu fühlen? Bei uns Ärzten nennt man das einen Hausbesuch. Und glauben Sie mir: Bei dieser Gelegenheit werde ich diesem Schuft eine Behandlung verpassen, die er nie wieder vergessen wird.«
Krisensitzung
Hamburg 1842, 5. Mai,
3 Minuten nach 11 Uhr am Vormittag
P olizeiaktuar Kettenburg stand zwischen Menschenmassen eingezwängt auf der Trostbrücke, die über das Nikolaifleet führte, und schob sich an den Kolonnen der Flüchtenden vorbei auf den Rathausplatz zu. Die Luft stank nach Rauch, und hin und wieder wirbelten weiße Ascheflocken vom Himmel herab. Um ihn herum waren das Geschrei von Kindern, das Wiehern von Pferden und das knarrende Geräusch von hoffnungslos mit Möbeln und anderen Habseligkeiten überladenen Karren zu hören.
Polizeisenator Binder hatte vor einer halben Stunde einen Schreiber ins Stadthaus geschickt und nach ihm verlangt. Kettenburg sollte sich unverzüglich im Rathaus einfinden. Und das, obwohl er gerade einen Termin mit einem Uhrmacher am Speersort ausgemacht hatte. Nachdem ihm dieser englische Ingenieur schon nicht hatte weiterhelfen können, hoffte er, dass der Mann mit der voltaischen Uhr und dem merkwürdigen Kristallstab etwas anzufangen wusste, den er gestern bei den Lewalds gefunden hatte. Grimmig zog er die Aktentasche mit den beiden Gegenständen an sich. Er hoffte noch immer darauf, für einen Besuch bei dem Uhrmacher Zeit zu finden. Polizeisenator Binder schien zwar davon überzeugt, dass dieser Kahlköpfige hinter den seltsamen Ereignissen gesteckt hatte; für ihn selbst war der Fall aber noch lange nicht abgeschlossen. Was sie im Keller unter der Abdeckerei gefunden hatten, bescherte ihm jetzt noch Alpträume.
Wenn er doch nur diesen blonden Herumtreiber fände, der die Freundlichkeit der Lewalds so schamlos ausgenutzt hatte! Die Aussage Caroline Lewalds jedenfalls war mehr als wirr gewesen. Zumindest schien das, was er über die Herkunft des Mannes aus ihr herausgepresst hatte, höchst unglaubwürdig. Eine strenge Gouvernante oder eine baldige Ehe wäre seiner Meinung nach angeraten, um das
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