Der Funke des Chronos
schüttelte den Kopf, doch der Uhle nickte heftig. »Ja, bring uns einen Krug mit Wasser.«
Der Aufseher grunzte und schloss die Tür. Kettenburg und Borchert waren nun wieder allein. Trotz der stickigen Hitze im Raum konnte sich der Polizeiaktuar eines Fröstelns nicht erwehren. Räuspernd trat er an das einzige Fenster des Raums. Zu seiner Verwunderung war es nicht vergittert. Als er nach draußen blickte, wusste er warum: Vor ihm erstreckte sich der düstere Innenhof des Zuchthauses, der von den vier Flügeln des Baus eingefasst wurde. Flucht war hier unmöglich.
»Borchert, was ist das?« Kettenburg deutete auf ein seltsames, roßähnliches Gebilde, das unter ihm auf dem Hofstand. Angesichts des Zwielichts war es nur schwer zu erkennen.
»Dat ›hölzerne Pferd‹«, erklärte der Wacher einsilbig und trat neben ihn. »Dat is’n Folterinstrument. De Sitz is scharfkantig. Man sett de Gefangenen mit schwere Gewichten an de Füßen drauf, zieht sie über den Hof un peitscht se währenddessen aus. Manchmal wegen de Disziplinierung, manchmal, wie man hört, abers ook nur so. Zum Spooß.«
»Ah, ja. So, so. Nun, das Zuchthaus soll ja auch strafen. Ähem.« Kettenburg räusperte sich ein weiteres Mal und wandte sich unangenehm berührt ab. Endlich kehrte der Aufseher zurück, brachte das Wasser und verschwand wieder. Kettenburg hatte einen trockenen Hals, verkniff es sich aber, nach einem der Becher zu greifen. Stumm warteten er und der Uhle darauf, dass der Schlüsselmeister endlich eintraf.
Zehn Minuten später waren im Gang hinter der Tür Geräusche zu hören, und der Mann erschien in Begleitung einer dürren Frau, deren Oberlippe aufgeschlagen und blutverkrustet war. Grob setzte sie der Fettleibige auf einen der beiden Hocker.
Kettenburg schätzte die ›keusche Susanne‹ auf knapp zwanzig Jahre, auch wenn sie gut zehn Jahre älter aussah. Mit Huren wie ihr hatte er bislang nur selten Umgang gehabt. Auch beruflich pflegte er sich mit Gesindel ihresgleichen nicht oft abzugeben. Ihm oblagen Fälle von höherem Gewicht. Kapitalverbrechen. Nicht solche Sachen. Das Mädchen mochte früher recht hübsch gewesen sein, jetzt trug sie gestreifte Anstaltskleidung, und ihr geschorenes Haupt wurde von einem schlichten Kopftuch eingefasst. Aus leeren Augen starrte sie ihn und Borchert an.
»Brauchen Sie mich noch?« wollte der Schlüsselmeister wissen.
»Nein, wir rufen Sie, wenn wir Sie benötigen.«
Der Mann nickte und verließ den Raum.
»Du also bist die, die man die ›keusche Susanne‹ nennt?« wollte Kettenburg wissen und setzte sich ihr gegenüber.
Das Mädchen blickte durch ihn hindurch.
»Wi tun di nix, hebb man keen Bang«, sagte Borchert beruhigend. Der Uhle schenkte etwas Wasser in einen der Becher und schob ihn dem Mädchen hin. Die Gefangene erwachte aus ihrer Lethargie und stürzte den Becher in einem Zug hinunter. Der Polizeiaktuar begriff plötzlich, zu welchem Zweck der Wacher das Wasser bestellt hatte. Er kam sich schäbig vor. Wegen seiner Unwissenheit und auch deshalb, weil er sich nie für die Zustände an diesem Ort interessiert hatte.
Vorsichtig begann er zu berichten. Von den Leichen, die sie gefunden hatten, von dem Mörder, den es zu stellen galt. Jetzt erst kam er auf die Tätowierung des Toten und auf den Hinweis zu sprechen, den sie sich von diesem Fund erhofften. Seine letzten Worte klangen beschwörend: »Susanne, wenn wir diesen Mörder nicht finden, dann wird er vermutlich noch mehr von deinesgleichen umbringen. Niemand kann ihn daran hindern. Versuch dich zu erinnern, mit wem dein Lude Umgang hatte.«
»Dann is er endlisch verreckt, die alt Mistsau?« Das Mädchen lachte freudlos über den ersten Satz, den es an diesem Abend hervorgebracht hatte. »Des geschieht ihm rescht. Den soll der Deiwel hole.«
»Ich hoffe, das ist nicht alles, was du uns zu erzählen hast.«
»Was hätt’en isch dem?« Das Mädchen nahm einen weiteren Schluck Wasser. »Was hätt’en isch defu?«
Die letzten Worte schrie sie, und Kettenburg wischte sich den Speichel ab, der ihm ins Gesicht sprühte.
»Du büss dat dir un de Herrgott schuldig«, erklärte Bochert ruhig.
Die keusche Susanne kicherte schrill. »Soll isch dem Herrgott etwa uf de Knie dafeer danke, dass er misch an so en beschissene Ort geplanzt hat? Des hier is die Hell. Die Hell! Soll isch ihm desteweje Zucker ums Maul schmeern? Soll isch misch fer die laafend Tracht Prijel bedanke? Oder dodefer, dass misch die Uffseher bummse?
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