Der Funke des Chronos
Gott?« fragte Caroline verwundert.
»Weil Thot von den alten Ägyptern stets als Mensch mit Ibiskopf gezeigt wurde«, erklärte der Theatermann. »Die Griechen haben ihn unter dem Namen Chronos verehrt. Er war der Gott der Zeit!«
»Der Gott der Zeit?« Tobias fuhr überrascht herum und starrte erst Mattler und dann die Maske an. Das konnte kein Zufall sein. Waren die Einbrecher also doch hinter ihm und der Zeitmaschine hergewesen? Aber wie konnte das möglich sein? Die Masken, die seine Gegner getragen hatten, waren ohne Zweifel vor seiner Ankunft in dieser Epoche angefertigt worden. Andererseits – vielleicht hatte ihn der Kahlköpfige vorgestern Nacht erwartet? Hatte er gar gewusst, dass er kommen würde? Wer sagte ihm, dass er der erste war, der die Zeitmaschine benutzt hatte? Sein Kopf dröhnte angesichts der Möglichkeiten, die diese Vermutung mit sich brachte.
»Und Sie hegen keinerlei Zweifel daran?« wollte er wissen.
»Nö«, erwiderte Mattler grinsend, »’n Spatz ist es mit Sicherheit nicht.«
Tobias atmete tief ein und wandte sich wieder dem Platz vor dem Theater zu. Er musste den Kahlköpfigen finden. Dringender denn je!
Sein Blick streifte erneut den Betrunkenen, der nun schnarchend neben einer Holzwand mit bunten Plakaten lag. Von seinem Pferd war keine Spur mehr zu entdecken. Es hatte den Weg nach Hause offenbar ohne seinen Besitzer angetreten.
In diesem Augenblick hatte Tobias einen Einfall. Er war aus purer Verzweiflung geboren, doch inzwischen war er bereit, selbst der aussichtslosesten Fährte zu folgen.
»Mattler, sagen Sie, sind die Kostüme da hinten echt?« Er deutete auf die Offiziersuniformen, zwischen denen noch immer die beiden Kinder tobten.
»Naja, so gut wie. Wieso?«
»Weil ich mich als Schauspieler versuchen möchte.«
Überrascht sahen ihn Caroline und der Theaterdirektor an.
»Wat soll dat denn für ein Stück werden?« wollte Mattler wissen.
»Sie werden es nicht kennen. Es heißt ›Der Hauptmann von Köpenick‹!«
Geknechtete Seelen
Hamburg 1842, 3. Mai,
23 Minuten nach 7 Uhr am Abend
L abore nutrior, labore plector – Durch Arbeit werde ich ernährt, durch Arbeit werde ich gezüchtigt. Polizeiaktuar Kettenburg stand vor dem Werk- und Zuchthaus und betrachtete mit geschürzten Lippen den Schriftzug über dem Eingang. Im roten Licht der Abendsonne hob er sich von dem dunklen Gestein wie geronnenes Blut ab. Der klotzige Bau stand nur einen Steinwurf von der Binnenalster entfernt, auf der einige Schwäne ruhig ihre Bahn zogen. Wie so viele andere Hanseaten fragte er sich, womit die Insassen einen derart privilegierten Ort verdient hatten, um ihre Strafe zum Wohl der Gesellschaft abarbeiten zu dürfen. Seinen Kenntnissen nach beherbergten der Bau und das angrenzende Spinnhaus derzeit über tausend Gefangene: strafrechtlich Verurteilte, arbeitsscheue und sittenlose Vagabunden, diebische Dienstboten, Dirnen, politische Unruhestifter, Bettler und Trunkenbolde. Kurz, der ganze Abschaum, den Hamburg zu bieten hatte. Darunter befanden sich auch ein gutes Dutzend Männer, die es ihm zu verdanken hatten, an diesem Ort arretiert worden zu sein. Es war gut, diese Gauner sicher verwahrt zu wissen. Dennoch beschlich den Polizeiaktuar angesichts des Gebäudes ein mulmiges Gefühl. Wo Borchert nur blieb?
Er verschränkte die Arme hinter dem Rücken und wartete. Seine Gedanken glitten wieder zu seinem Treffen mit William Lindley zurück, dem englischen Ingenieur. Vor einer knappen Stunde erst hatten sie dem Keller des Rathauses einen Besuch abgestattet, wo die schlittenartige Maschine verwahrt wurde, die sie in der Nähe des letzten Tatorts gefunden hatten. Lindley hatte sein Erstaunen über den Fund kaum verbergen können. Mehr noch, bei der anschließenden Untersuchung hatte er sich fast wie ein Vater gebärdet, der nach Jahren der Trennung seinen verlorenen Sohn gefunden hatte. Schon seltsam. Einfach alles wollte er über die Apparatur wissen: wie die Polizei in ihren Besitz gelangt war, wo genau man sie gefunden hatte und noch vieles mehr. Doch leider wusste auch Lindley nicht, welchem Zweck die seltsame Maschine diente. Es war zum Verrücktwerden. Denn wer, wenn nicht William Lindley, hätte ihm in diesem Fall weiterhelfen können?
Ungehalten kramte Kettenburg seine silberne Taschenuhr hervor und warf einen Blick auf den Chronometer. Fast halb acht. Sein Blick blieb kurz auf dem Bild seiner Frau und seines Sohns hängen, dann steckte er die Uhr wieder weg
Weitere Kostenlose Bücher