Der Gärtner von Otschakow
was mein Vater geschrieben hat. Das Buch vom Essen. Aus Otschakow. Er hat eine gute Handschrift, du wirst es lesen können!« Der Gärtner streckte Igor das Buch hin. »Lies! Vielleicht wirst du klüger!«
Die Zimmertür knarrte. Offenbar stand die Mutter auf der anderen Seite und lauschte. Und ging dann fort.
[265] »Ich habe ein paar Fragen an dich.« Stepan ging plötzlich zum Flüstern über. »Die erste: Deine Pistole hat jetzt eine Patrone weniger im Magazin. Und die Mündung riecht nach Pulver…«
Sein Blick aus etwas zusammengekniffenen Augen bohrte sich in Igor.
»Beim Picknick, im Wald, haben wir geschossen. Auf Flaschen…«
»Auf eine Flasche? Es war doch nur eine Patrone?« In der Stimme des Gärtners klang heimlicher Spott. Stepan merkte eindeutig, dass man ihn täuschte.
»Ja, auf eine.«
Der Gärtner streckte die Hand zum Nachttisch aus, nahm die abgebrochene Messerklinge, die der Milizionär gebracht hatte, und drehte sie nachdenklich in den Händen.
»Du hast also beschlossen, selbst mit der Sache klarzukommen? Hilfe wird nicht gebraucht?«, fragte er ruhig.
Igor nickte.
Stepan packte die Klinge fest, vollführte ein paar rasche Bewegungen und verfolgte, wie die Klinge durch die Luft schnitt. Dann hob er sie dicht vor die Augen.
»Siehst du, zwei Millimeter hat man drangelassen, nicht ganz durchgesägt. Das ist riskant! Um solche Tricks auszuführen, muss man sehr selbstsicher sein! Man muss genau wissen, wie stark man zusticht!«
»Und was ist daran riskant?«
»Wenn das Messer auf eine Rippe trifft, bricht der Griff von selbst ab, und der, der zusticht, schneidet sich die Hand an der Klinge… Und die ist scharf!« Er fuhr mit der Spitze des Zeigefingers über die Klinge.
[266] »Also wusste der, der zustach, dass er nicht auf eine Rippe trifft«, sagte Igor.
»Das wusste er.« Stepan nickte. »Und wenn er das wusste, heißt das, er hat zugestochen, als du schon am Boden lagst! Wenn er zum Messer greift, dann musst du, nach ihren Regeln, mit dem Messer antworten. Nicht mit der Pistole!« Stepan sah Igor aufmerksam in die Augen.
»Nach wessen Regeln?«, fragte Igor zurück.
»Nach den Regeln der Diebe…«
Igor versank in Nachdenken, in Erinnerungen an seine letzte Nacht in Otschakow.
»Wenn Sie so viel über deren Regeln wissen«, begann er mit einiger Hochachtung in der Stimme, »was ist ein ›Diebesehrenwort‹?«
Stepan lächelte schief. »Naja«, er fuhr sich mit der Hand über das rasierte Kinn. »Das zählt mehr als ein Pionierehrenwort, aber gilt nur unter Dieben.«
»Das heißt, wenn ein Dieb einem, der keiner ist, ein Diebesehrenwort gibt, dann wird er sein Wort nicht halten?«
»Ein Dieb gibt keinem ein Diebesehrenwort, der nicht auch einer ist«, erklärte Stepan ernst. »Das ist gegen die Regeln.«
»Interessant«, sagte Igor langsam. »Und Sie wissen, wie man richtig mit dem Messer zusticht?«
Stepan nickte.
»Zeigen Sie es mir?«
»Wenn du wieder auf den Beinen bist, dann zeige ich es dir! Also, erhol dich, Verwundeter!« Der Gärtner lächelte freundlich, winkte zum Abschied und ging hinaus.
[267] 24
Vor dem Fenster regnete es schon den dritten Tag. Das Buch vom Essen, das Stepan Igor untergeschoben hatte, hatte ihn zuerst verwirrt und dann zum Lachen gebracht. In bunter Mischung mit seltsamen Kochrezepten, die eher Rezepten aus der Volksmedizin glichen, waren in runder Schülerhandschrift tiefgründige Abhandlungen notiert, über die Abhängigkeit des Schicksals eines Volkes von der Nahrung, die es isst. Manche Gedanken verdienten durchaus Aufmerksamkeit, andere wiederum erschienen wie die Phantastereien eines Verrückten. Eine Seite war mit Bleistift in Rubriken unterteilt. Über Spalten, in denen Lebensmittel aufgeführt waren, standen Überschriften wie: »Widrige«, »Reaktionäre«, »Feindliche«, »Nahe«, »Natürliche«, »Heilsame«. Unter den »widrigen« Lebensmitteln entdeckte Igor Würste, Teigwaren, Algen, Reis, Zitrusfrüchte, Walfleisch und -fett. Als feindlich betrachtete der Autor saures Obst, Essig, Salzheringe und getrockneten Fisch, Halva und Schokolade. In die Abteilung »Natürliche« fielen Buchweizen, Perlgraupen, Weizen, Maisgrieß, Erbsen, Linsen, Schafskäse.
»Ein interessanter Verrückter«, seufzte Igor, als er das gebundene Manuskript ein weiteres Mal zuklappte.
Er konnte jetzt schon allein aufstehen und trat vorsichtig, langsam ans Fenster, hinter dem, durch das schlechte Wetter beschleunigt, die Abenddämmerung sich
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