Der Gast: Roman
sie.
»Schlimmer.«
»Was könnte schlimmer sein?«
Er schüttelte den Kopf. »Einiges.«
Er sah, dass sie schon eine Bierdose in der Hand hielt. Sie hob sie an den Mund und trank.
»Das ist meine«, sagte er.
»Stört es dich? Ich habe sie drüben auf dem Tisch stehen sehen. Da konnte ich nicht anders.«
»Möchtest du kein Glas?«
»Geht auch so«, sagte Marta. Mit der freien Hand zog sie den Stuhl mit der geraden Lehne unter dem Tisch hervor. Sie drehte ihn um, setzte sich und begann, damit zu schaukeln.
»Gleich fällst du und schlägst dir den Kopf auf.«
Das sagte Neal jedes Mal, wenn sie damit anfing. Sie tat das oft. Die Schaukelei mit seinem Küchenstuhl schien eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein.
»Das Risiko gehe ich ein«, entgegnete sie. Es war ihre übliche Antwort. Lächelnd trank sie einen Schluck Bier. »Wie kommt es, dass du so zerschlagen bist?«
»Ich habe die Videos zurückgebracht.«
»Bist du hingefallen?«
»Ja.« Er hob den Krug und trank. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Arbeitsfläche. Er blickte auf die dunklen Kratzer an seinen Knien. »Nichts Ernstes«, fügte er hinzu.
»Was ist es dann?«, fragte Marta.
»Wie meinst du das?«
»Ich weiß nicht.« Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf. »Geht es deinen Eltern gut? Ist irgendjemandem etwas passiert?«
»Nein, nein. Nichts in der Art.«
»Soll ich raten?«
»Ich will wirklich nicht darüber reden.«
»Okay.« Sie zuckte die Achseln. »Ich mache mir nur Sorgen, das ist alles. Wenn du verletzt bist, tut es mir auch weh.«
Ihre Worte trafen ihn bis ins Mark.
»Vielleicht sollte es nicht so sein.« Sie setzte die Stuhlbeine auf dem Boden ab. »Ich meine, wir sind ja nicht verheiratet oder so. Aber ich liebe dich. Ich kann nicht anders. Und du jagst mir verdammte Angst ein. Du bist doch nicht krank, oder? Du hast doch nichts … Schlimmes?«
»Ich bin gestern in etwas hineingeraten«, sagte er. »Das ist alles. Ich bin nicht krank. Ich habe versucht, ein Verbrechen zu verhindern, aber dann ging alles schief, und die Frau wurde ermordet. Sie war nett. Ich konnte sie nicht retten. Dieser … dieses Schwein … hat sie getötet, und ich konnte ihn nicht davon abhalten.«
»Mein Gott«, ächzte Marta.
»Und sie wurde nicht nur umgebracht, sondern die Polizei könnte auch noch glauben, dass ich es getan habe. Und der Kerl, der es wirklich gemacht hat, weiß, wer ich bin. Ich glaube, er ist entkommen, und ich glaube, er hat die Visitenkarte, die ich Elise gegeben habe, deshalb weiß er, wo ich wohne, und es könnte sein, dass er kommt und …«
»Elise Waters?«
»Ja.«
»Du warst da?«
»Ja.«
»Mein Gott.«
»Was ist?«
»Die Frau in Brentwood? Elise Waters? Die Turmspringerin?«
»Ja.«
»Wahnsinn. Es ist überall in den Nachrichten. Du warst wirklich da? Als es passiert ist?«
Er trank von seinem Bier, dann schüttelte er den Kopf. »Nicht direkt. Vielleicht sollte ich es von Anfang an erzählen.«
»Warte«, sagte Marta.
»Warum?«
»Fang noch nicht an.« Sie stand auf. »Wir sollten es mit der Videokamera aufnehmen.«
»Was?«
»Wir zeichnen deine komplette Aussage auf und bringen sie zur Polizei.«
»Ich gehe nicht zur Polizei.«
Marta setzte sich abrupt wieder hin. Ihr Mund stand einen Moment lang offen. »Warum nicht?«
»Ich habe meine Pistole benutzt. Ich habe auf ihn geschossen .«
»Auf wen?«
»Auf den Mörder.«
»Du hast auf den Mörder geschossen? Wahnsinn!«
»Reg dich nicht zu sehr auf. Ich habe ihn nicht getötet. Soweit ich weiß, läuft er noch irgendwo da draußen herum. Aber wenn die Polizei rausfindet, was ich getan habe, könnte ich verhaftet werden, weil ich eine geladene Pistole bei mir hatte und damit auch noch geschossen habe … Und sie könnten sogar glauben, dass ich Elise ermordet habe. Ich war in ihrem Haus. Direkt am Tatort. Meine Fingerabdrücke sind dort.«
Marta schwieg eine Weile mit finsterem Gesichtsausdruck. Dann sagte sie: »Okay. Es ist deine Entscheidung. Wenn du meinst, es ist besser, nicht zur Polizei zu gehen … Aber ich finde trotzdem, dass wir deine Geschichte unbedingt aufnehmen sollten. Ich bediene die Kamera, und du erzählst mir jedes winzige Detail. Es wird ein wichtiges Beweisstück sein, falls sie dich doch erwischen.«
»Ich habe keine Kamera«, erinnerte Neal sie.
»Ich aber.«
»Ich weiß.«
»Also lass uns zu mir fahren«, sagte Marta.
»Das wollte ich sowieso vorschlagen. Ich möchte nicht, dass du hier in der
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